Der Krieg in Gaza hätte Möglichkeit sein können die deutsche feministische Außenpolitik tatsächlich umzusetzen. Stattdessen ist sie am Prüfstand gescheitert – und hat erneut die Doppelmoral und Unglaubwürdigkeit der Bundesregierung im Palästina/Israel-Krieg offenbart.
Groß waren die Aufregung und Erwartungen als im März 2023 im Auswärtigen Amt die sogenannten Leitlinien feministischer Außenpolitik präsentiert wurden. Deutschland, neben anderen Ländern wie z.B. Schweden oder Kanada, war somit eines der ersten Länder weltweit, das feministische Ansätze als festen Bestandteil in seine Außen- und Entwicklungspolitik eingeschrieben hatte. Rund ein Jahr später allerdings scheint dieser einst progressive Vorstoß inmitten der humanitären Katastrophe in Gaza vollkommen vergessen. Dabei könnten feministische Ansätze, so wie sie teilweise in den Leitlinien des Auswärtigen Amts formuliert wurden, essenzielle Schritte für eine politische Lösung des Kriegs vorzeichnen.
Der Kern feministischer Außenpolitik ist ein menschenrechtsbasierter Ansatz internationale Politik, Konflikt und Frieden zu verstehen und zu navigieren. Im Fokus steht hier einerseits die Hinterfragung patriarchaler, (neo)kolonialer und militarisierter Machtverhältnisse, sowie die Überwindung dieser; und darüber hinaus eine radikale Transformation von gewaltsamen und ungleichen Strukturen. Ausgehend von der Prämisse „wenn Frauen nicht sicher sind, ist niemand sicher“ (Annalena Baerbock, 01.03.2023), stehen andererseits aber vor allem auch marginalisierte Personengruppen selbst im Fokus, die weltweit besonderen Risiken ausgesetzt sind. Bei der Leistung humanitärer Hilfe soll daher z.B. intersektional und geschlechterspezifisch auf die Bedürfnisse und Umstände von Frauen, Kindern oder Menschen mit Behinderung eingegangen werden. Der feministischen Außenpolitik ist somit auch eine inhärente Friedenslogik eingeschrieben; ein Frieden, an dessen Schaffung und Aufrechterhaltung marginalisierte Gruppen maßgeblich beteiligt und miteinbezogen werden sollen.
Es sind genau diese Inhalte, denen sich die Bundesregierung offiziell, und mit großer öffentlicher Selbstbeweihräucherung obendrein, verschrieben hat. Bei Betrachtung des tatsächlichen politischen Handelns der Bundesregierung in Gaza jedoch wird klar, dass sich Theorie und Praxis quasi diametral gegenüberstehen. Lange schon betiteln mehrere Medienhäuser und UN-Institutionen (z.B. OHCHR) den Krieg in Gaza auch als „Krieg gegen Frauen und Kinder“. Unter den rund 35.000 Toten Zivilist*innen in Gaza befinden sich ca. 10.000 Frauen und 14.500 Kinder, 75% der fast 78.000 Verletzten stellen Frauen dar. Laut Expert*innen kommen dazu noch weitere rund 8000 Vermisste, die unter den Trümmern vermutet werden, und von denen mindestens die Hälfte Frauen und Kinder sein sollen. Darüber hinaus sind Frauen und Mädchen im Zuge des Kriegs von verschiedenen Formen systematischer Gewalt betroffen. Ihre reproduktiven und sexuellen Rechte sind durch die Zerstörung ziviler Infrastruktur (z.B. Krankenhäuser) stark eingeschränkt; schwangere Frauen müssen unter teilweise desaströsen Umständen und ohne ärztliche Betreuung gebären. Die Mehrheit der palästinensischen Frauen und Mädchen hat keinen Zugang zu Sanitäranlagen oder Hygiene- und Menstruationsprodukten. In Notunterkünften und Flüchtlingslagern sind Frauen außerdem wegen mangelnder Sicherheit und Privatsphäre überdurchschnittlich oft geschlechterbasierter und sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Hinzu kommen vermehrte Berichte gewaltsamer Fälle von Verschwindenlassen palästinensischer Frauen und Mädchen durch das israelische Militär.
Wo, wenn nicht in Gaza, könnte gerade jetzt eine feministische Außenpolitik ansetzen und wirken? Wer, wenn nicht die Frauen in Gaza, braucht jetzt sofortige humanitäre Hilfe, die genderspezifisch auf ihre Situation vor Ort angepasst ist?
Was Deutschland jedoch tut, ist alles andere als feministisch. Bereits seine uneingeschränkte und bedingungslose Solidarität mit dem Staat Israel und seiner rechtsradikalen Regierung steht im Widerspruch einer Hinterfragung von gewaltsamen Machtstrukturen. Im Oktober 2023 enthielt sich Deutschland bei einer UN-Resolution, die Israel zu einer humanitären Feuerpause aufforderte; und auch erneut im Dezember 2023, als es um die Forderung eines sofortigen Waffenstillstands ging. Anfang des Jahres 2024 stoppte die Bundesregierung dann jegliche Finanzierung für das UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA, das eine der wenigen verbleibenden Institutionen ist, die in Gaza lebensrettende humanitäre Arbeit leistet. Erst im April, nachdem die Vorwürfe gegen Mitarbeiter*innen des UNRWA weitestgehend nicht belegt werden konnten, wurden die Zahlungen an das Hilfswerk wiederaufgenommen. Nicht zuletzt dafür musste sich Deutschland auch vor dem IGH unter der Anklage der Unterstützung des Völkermords verteidigen. Allem voran jedoch verbleibt Deutschland auch weiterhin zweitgrößter Waffenlieferant Israels: seit Kriegsbeginn und in den letzten Monaten des Jahres 2023 allein haben sich die deutschen Rüstungsexporte von 32 auf 326 Millionen Euro verzehnfacht. Deutschland liefert laut Rüstungsexportbericht bspw. Panzerfäuste, Schulterwaffen, Munition, Treibladungen sowie Kriegsschiffe und weitere Rüstungsgüter, die mutmaßlich bei den genozidalen Kriegsverbrechen Israels zum Einsatz kommen.
Drastischer könnte der Gegensatz zu den Grundsätzen, zu denen sich die Bundesregierung in den Leitlinien feministischer Außenpolitik verpflichtet hat, nicht sein. Denn man möge angesichts des deutschen Kurs erneut an das Kernstück der Leitlinien zurückerinnern: Demilitarisierung, Rüstungskontrolle, ein menschenrechtsbasierter Ansatz mit dem Ziel Frieden zu schaffen und die Leistung humanitärer Hilfe mit besonderem Augenmerk auf die Bedürfnisse und Herausforderungen marginalisierter/vulnerabler Personengruppen. Es scheint beinahe so, als handele es sich hierbei nicht nur um eine gewöhnliche Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, sondern vielmehr um ein absichtliches Ignorieren und völliges Verneinen der eigens festgelegten Zielsetzungen. Das Handeln Deutschlands in Gaza steht geradezu ad absurdum zu seinen Verpflichtungen in den Leitlinien feministischer Außenpolitik. Der Slogan „Women, Peace and Security” aus Leitlinie 1 der feministischen Leitlinien könnte daher nicht weniger zynisch sein; er ist vielmehr ein regelrechter Schlag ins Gesicht. Denn Deutschland kommt nicht nur seiner Schutzpflicht nicht nach, sondern ist aktiv am Terror beteiligt, dem (insbesondere) Frauen ausgesetzt sind.
Dadurch verspielt die Bundesregierung nicht nur ihre eigene Glaubwürdigkeit, sondern kann auch völkerrechtlich in Schwierigkeiten geraten. Wie lange dauert es noch, bis Deutschland nicht nur die eigenen politischen Leitlinien ignoriert, sondern auch die des internationalen Rechts? Diese Frage stellt sich insbesondere vor dem Hintergrund der laufenden Klage gegen Israel wegen Genozids gegen die Palästinenser*innen – dessen Schuld Deutschland bisher konsequent abstreitet und Israel bedingungslos unterstützt. Israel hat bereits erklärt, es werde den Gesetzen des internationalen Völkerrecht keine Beachtung (mehr) schenken; ebenso wie es den Rechtsspruch des IGH, den Militäreinsatz gegen Rafah sofortig einzustellen, eklatant ignoriert hat. Worin besteht der qualitative Unterschied zwischen der UN-Resolution, die das Ende des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine fordert und gegen die Russland sein Veto eingelegt hat – und das gezielte Übergehen des Rechtsurteils des höchsten internationalen Gerichts durch Israel?
Das Handeln und die Positionierung der Bundesregierung offenbart die Doppelmoral ihrer eigenen feministischen Logik, die sie offensichtlich nur selektiv und einseitig anwendet. Im Fall Deutschland und Gaza bleibt das transformative Potenzial wahrer feministischer Außenpolitik ungenutzt. Die Ansätze könnten bspw. helfen, um den Krieg in Palästina und Israel historisch zu kontextualisieren, um koloniale und zionistische Strukturen offenzulegen und um einen machtkritischen Diskurs über Frieden zu initiieren. Während die internationale Legitimation für den sogenannten „Wertepartner“ Israel stetig schwindet, steht auch zunehmend Deutschland selbst, das sich als westliches Land für seine menschenrechtsbasierte Politik und seine progressiven Frauenrechten rühmt, als heuchlerisch und unglaubwürdig da. Feministische Außenpolitik muss sich intersektional und radikal für alle und für ihre Befreiung einsetzen; sonst riskiert sie lediglich weiterer Handlanger imperialistischer Politik und militarisierter Gewalt zu sein.