Seit dem 7.10.2023 äußern sich zunehmend auch Juden und Jüdinnen kritisch gegenüber dem Verhalten der israelischen Regierung. Was sie zu sagen haben und welchen Problemen sie sich stellen müssen, wird im Folgenden anhand einiger Beispiele dargestellt.
Besonders präsent in diesem Zusammenhang ist die „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“. Dabei handelt es sich um eine im Jahr 2003 gegründete jüdische Organisation, die sich für Frieden und Gerechtigkeit im Nahen Osten einsetzt. Sie möchte darauf hinwirken, dass die Bundesregierung aktiv zur Verwirklichung eines dauerhaften und für beide Nationen lebensfähigen Friedens beiträgt. Sie stellt sich gegen all jene, die sich anmaßen für alle Juden zu sprechen: „Nicht in unserem Namen“ lautet der Slogan. Am 7.10.2023 erfolgte eine Stellungnahme zu den aktuellen Geschehnissen über Instagram. Darin äußerte die Jüdische Stimme zunächst Trauer um die Toten und daran anschließend deutliche Kritik an Israels Regierung. Insbesondere äußerte die Jüdische Stimme den Vorwurf eine rassistische Politik im Gazakrieg zu forcieren. Es folgte eine Aufforderung an die deutsche Regierung die zu Menschenrechtsverletzungen führende Politik Israels nicht mehr zu unterstützen, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu sichern und sich für gleiche Rechte aller, die zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan leben, einzusetzen. Seitdem setzt sich die Jüdische Stimme primär für die Demonstrationsfreiheit ein und verurteilen die von Polizist*innen verübten Gewalttaten im Zuge der Pro-Palästina Demonstrationen.
Große Aufmerksamkeit erlangte außerdem der offene Brief jüdischer Intellektueller und Künstler*innen vom 22.10.2023, welcher in der TAZ veröffentlicht wurde. In diesem Schreiben verurteilen die Unterzeichner*innen das beunruhigende Vorgehen gegen die demokratische Öffentlichkeit nach den schrecklichen Gewalttaten in Israel und Palästina. Sie verurteilen auch die terroristischen Angriffe auf Zivilisten in Israel vorbehaltlos, lehnen es jedoch ab, diese als Vorwand für rassistische Gewalt zu instrumentalisieren und bekunden ihre Solidarität mit ihren arabischen, muslimischen und insbesondere palästinensischen Nachbar*innen Abschließend lehnen sie insbesondere die Gleichsetzung von Antisemitismus und jeglicher Kritik am Staat Israel ab und sie fordern Deutschland auf, sich an seine eigenen Verpflichtungen zur freien Meinungsäußerung und zum Versammlungsrecht zu halten.
Eine Mitunterzeichnerin dieses Briefes ist Candice Breitz. Sie ist eine südafrikanisch- jüdische Künstlerin. Schon im Jahr 2020 wurde sie aufgrund ihrer Unterstützung der „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“, welche fordert, die zum Israelboykott aufrufende BDS-Bewegung nicht antisemitisch zu nennen, kritisiert. Immer wieder wurde ihr Antisemitismus vorgeworfen. Aufgrund ihrer aktuellen „kontroversen Äußerungen im Kontext des Angriffskrieges der Hamas auf den Staat Israel“ wurden nun im Dezember 2023 eine Tagung und eine Ausstellung im Saarland an der sie teilnehmen sollte abgesagt. Die Stiftung „Saarländischer Kulturbesitz“ behauptet, dass sich Breitz sich nicht deutlich genug gegen den Terror der Hamas positioniert und man ihr daher keine Bühne bieten möchte. Breitz wurde laut eigenen Angaben keine Chance gegeben, sich zu dem Vorwurf zu äußern. Zudem ist auf ihrem Instagram-Kanal zu erkennen, dass sie sich klar gegen den Terror der Hamas geäußert hat. Am 15.10.2023 schrieb Breitz : „it is possible to fully condemn Hamas (as I do, unequivocally), while nevertheless supporting the broader Palestine struggle for freedom from oppression, discrimination an occupation”.
Breitz setzt sich für die Rechte Palästinas ein, fordert eine Feuerpause, die Freilassung aller Geiseln und spricht aus, dass es sie als Jüdin nicht sicherer macht, wenn Menschen in Palästina leiden und sterben. In diesem Zuge kritisiert Breitz die israelische Regierung stark. Aufgrund all dessen erfährt sie Hass im Netz. Menschen bezeichnen sie unter anderem als „Hamas-loving bitch“, als Verräterin und Faschistin.
Bereits im November kritisierte sie, dass so viele kulturelle Veranstaltungen abgesagt wurden, bei denen Juden und Jüdinnen oder Palästinenser*innen eingeladen waren, die sich kritisch äußern. Sie schreibt: „A healthy democracy must allow fort the inclusion and participation of a broad range of voices, including voices that are critical of mainstream narratives.”. Am 3.12, nachdem ihre Ausstellung abgesagt wurde, kritisierte sie dies erneut, wiederholte aber auch, dass in Solidarität sowohl mit allen Israelis als auch mit allen Palästinensern steht. „The real problem is the inability of the dominant German perspective on Israel/Palestine to recognize the common humanity of all the victims and the legitimate demands of ordinary Palestinians for freedom, democracy and justice.”, fügte sie in einem Beitrag am 6.12 hinzu.
Der Vorfall um Candice Breitz ist kein Einzelfall: Auch die Preisverleihung am 20.10.2023 an die palästinensische Autorin Adania Shibli auf der Frankfurter Buchmesse wurde ausgesetzt. Begründet wurde dies damit, dass sich derzeit niemand zum Feiern fühle. Die Entscheidung wurde jedoch von verschiedenen Seiten kritisiert. Eva Menasse beispielsweise sagte: „Kein Buch wird anders, besser, schlechter oder gefährlicher, weil sich die Nachrichtenlage ändert. Entweder ist ein Buch preiswürdig oder nicht“. Ein offener Brief von internationalen Schriftstellern kritisiert zudem, dass der „Raum für palästinensische Stimmen in der Literatur“ geschlossen werde.
Auch eine in Berlin geplante Fotoausstellung über muslimisches Leben in der Hauptstadt wurde abgesagt. Der Grund: Aktuell wolle man ohne einen Gegenpol kein muslimisches Leben ausstellen. Obwohl den Aussteller*innen bewusst ist, dass „die Serie mit der aktuellen politischen Diskussion überhaupt nichts zu tun hat“, wollen sie sich nicht politisch positionieren. Der Künstler selbst und viele weitere kritisierten diese Entscheidung, da zum einen die Kunstfreiheit beschnitten werde und es zum anderen keinen Gegenpol brauche. Malik sagte: „Die verschiedenen Religionen und Kulturen sind keine Gegensätze oder Gegenpole. Berlin ist eine weltoffene Stadt, so bin ich groß geworden.“. Außerdem stellte er klar, dass „die Arbeiten zeitlich vor dem aktuellen Konflikt entstanden sind und nichts damit zu tun haben.“
All diese Geschehnisse vermitteln den Eindruck, dass sich die öffentliche Bühne, für Menschen die Israels Regierung kritisieren verkleinert. Es scheint so, als wolle man diesen Menschen keinen Raum geben, um sich zu äußern. Veranstaltungen wurden abgesagt, bevor man sich umfänglich mit dem auseinandergesetzt hat, was die Menschen konkret kritisieren. Jede Kritik (auch und vor allem von Juden und Jüdinnen selbst!) wurde als antisemitisch eingeordnet. Ein solches Vorgehen stellt eine große Gefahr für die demokratische Öffentlichkeit dar.
Selbstverständlich darf man dem Antisemitismus keine Bühne bieten, aber nicht jede Kritik an Israel ist automatisch antisemitisch und ein sachlicher Austausch und harte Kritik, auch am Vorgehen der Regierung muss möglich sein. Dies ist auch ein besonderes Anliegen der Unterzeichner*innen des offenen Briefs. Sie kritisieren, dass sich große Kultureinrichtungen durch solche Aktionen selbst zum Schweigen gebracht haben und dass diese somit ein „Klima der Angst, der Wut und des Schweigens geschaffen“ haben. All dies geschehe unter dem Vorwand, Juden zu schützen und den Staat Israel zu unterstützen. Als Jüdinnen und Juden lehnen sie diesen Vorwand für rassistische Gewalt ab.
Ähnlich äußerten sich auch die jüdischen Unterzeichner*innen des Briefes: „Nicht in unserem Namen“ (bspw.: Daniel Kahn, Eva Menasse und Igor Levit). In diesem Brief verteidigen sie die Staatsministerin für Kultur und Medien Claudia Roth, die beim jüdischen Musikwettbewerb Jewrovision während ihres Grußworts ausgebuht wurde. Sie betonen, dass „Kunst zwar politisch ist, aber politische Eingriffe in die Kunst unterbleiben müssen. Kulturschaffende bräuchten eine politische Umgebung, in der sie ungehindert arbeiten könnten. Das Judentum lebe von Vielstimmigkeit, Pluralismus und Debatte.“
Kritik an Israel muss möglich sein, egal von wem sie kommt! Kulturelle Veranstaltungen dürfen nicht allein aufgrund dessen abgesagt werden, dass dort Palästinenser*innen teilnehmen oder muslimisches Leben gezeigt wird. Es ist stets eine tiefgehende Auseinandersetzung mit den einzelnen Personen notwendig. Vorschnelle und unbegründete Absagen dürfen nicht toleriert werden! Es ist wichtig, dass Deutschland sich verpflichtet das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlung für alle Menschen gleichermaßen zu gewährleisten.