Vortrag und Diskussion
Mittwoch, 18. Mai 2022, 19 Uhr
Robert-Havemann-Saal, Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin
Die gegenwärtige weltpolitische Situation gibt nicht erst seit dem Ukraine-Konflikt Anlass zu ernster Sorge. Schon seit dem Anschlag vom 11. September auf das World Trade Center in New York befinden wir uns in einer globalen Dauerkrise: Auf den 11. September folgte 2007 die Finanzkrise, 2015 die Flüchtlingskrise wegen des eskalierenden Nahost-Konflikts, parallel dazu eine sich permanent verschärfende Umweltkrise, ab 2020 auch noch eine weltweite Pandemie und jetzt die Konfrontation des globalen Westens mit Russland (und China). Bis auf die Pandemie sind alle diese Krisen genuin politischer Natur. Auffällig ist zunächst, dass die globale Krisenhaftigkeit nach einem extremen Entspannungsereignis einsetzte, nämlich dem Fall des sog. Eisernen Vorhangs als Grenze zwischen den damals mächtigsten politischen und militärischen Blöcken der Welt. Wenn die zugrunde liegende geschichtliche Dynamik tatsächlich eine ist, die auf irgendeine Weise alle der anschließenden Krisen zumindest mitausgelöst hat, so fragt sich, was die bestimmenden Merkmale dieser Dynamik sind. Neben zahlreichen Gründen des technischen Fortschritts und der deutlich stärker vernetzten und beschleunigten globalen Kommunikation könnte es ein Schlüsselmerkmal geben, das die sonstigen Entwicklungsmerkmale in die Krise und nicht zu einer auch denkbaren Verbesserung des Gesamt-Weltzustandes führte. Das wurde nämlich nach dem Fall der Berliner Mauer zunächst global erwartet.
Die These von Wolfgang Sohst lautet, dass es ein unter den heutigen Umständen untaugliches Schema der sozialen Identifikation ist, das am Grunde aller dieser Verwerfungen liegt. Dieses Schema läuft darauf hinaus, dass soziale Identität eine essentielle Eigenschaft von Personen ist, z.B. basierend auf ihrer Nationalität, Blutsverwandtschaft, Religionszugehörigkeit, Hautfarbe (‚Rasse‘), Geschlecht und ähnlichen, letztlich biologisch definierten Merkmalen. Wer sich sozial auf einer solchen Grundlage identifiziert, erlebt obendrein mit großer Wahrscheinlichkeit alle Menschen, die nicht zur eigenen Gruppe dieser Art gehören, als Feinde. Es wäre dann also die Kombination einer essentialistisch gedachten sozialen Identität mit der unüberbrückbaren Ablehnung wesensungleicher Personen, die ständige Spannungen produziert, bis hin zu neuerlichen Weltkriegsgefahr. Innerhalb bestehender Gesellschaften kann ein solches Identitätsschema aber auch den umgekehrte Effekt haben, nämlich den Zerfall, sobald der äußere Feind wegfällt. Dies wird vor allem von US-amerikanischen Soziologen und Politologen als ein wesentlicher Grund dafür angeführt, warum die US-Gesellschaft vor unseren Augen zu zerfallen droht und sich erst in dem Moment wieder halbwegs rappelt, als Russland sich mit altbekannter Aggression als neuer Hauptfeind hergibt.
Realistische Wege aus einem solchen essentialistischen Identitätsdenken, gegen das sich schon einflussreiche Personen wie Bertrand Russell („Warum ich kein Christ bin“) und Amartya Sen („Die Identitätsfalle“) gewandt haben, sind sicherlich nicht kurzfristig umzusetzen. Dazu liegt das Problem zu tief in unserer aller psychischen und sozialen Verfassung. Die sog. Russell-Tribunale, die seit den 1960er Jahren, auch lange über den Tod von Russell selbst, immer wieder abgehalten wurden, gaben diesbezüglich ein wichtiges institutionelles Beispiel, wie repressive Identitäts- und Normalitätsschemata öffentlich thematisiert und kritisiert werden können. Es lohnt sich, zumindest mittelfristig noch weitere Ideen zu entwickeln, wie wir an den Fundamenten der gegenwärtigen Großprobleme eine Weichenstellung bewirken können.
Diese Veranstaltung ist Teil des HdDM-Projekts „Solidarität als Brücke zwischen Osten und Westen“ gefördert durch die Berliner Landeszentrale für Politische Bildung (Projektförderung 2022).
Veranstaltende: Haus der Demokratie und Menschenrechte, Internationale Liga für Menschenrechte und Bibliothek der Freien