Von Kilian Stein, erschienen am 15. Juli 2019 auf der Website des Humanistischen Pressedienstes (hpd)
Das Recht der Entschädigung ist gänzlich aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Selbst älteren Juristen ist oft nicht bekannt, dass es dieses Rechtsgebiet gegeben hat. Dabei war das Entschädigungsrecht von einiger sozialer, ökonomischer und nicht zuletzt politischer Bedeutung.
Um die ökonomische Seite anzusprechen, wurden Entschädigungsleistungen in Höhe von ca. 100 Milliarden DM erbracht. Dazu kommen die Kosten für Verwaltung, Gerichte, Gutachter und Rechtsanwälte, die immens gewesen sein müssen, weil das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) zum Leidwesen der Anspruchsberechtigten materiellrechtlich unsinnig differenziert ist und zudem einen Instanzenzug über vier Stationen vorsieht.
In diesem Text geht es ausschließlich um einen zu seiner Zeit politisch hochbrisanten, in seiner Wirkung für Betroffene einschneidenden Teil des Entschädigungsrechts, nämlich die Entschädigung von Menschen, die von den Nazis aus politischen Motiven verfolgt worden waren. Die betreffende Gesetzgebung und die darauf beruhende Praxis waren Bestandteil einer viel breiter angelegten, höchst energisch betriebenen politischen Kampagne gegen kommunistische Organisationen. Deren Gegenstück und Ergänzung war die Wiedereingliederung selbst schwer belasteter, in der Vergangenheit praktisch tätiger oder intellektueller Parteigänger des Naziregimes in Staat und Gesellschaft. Die politischen Ursachen für diese Vorgänge seien angedeutet: Die Restauration der bürgerlich kapitalistischen Gesellschaft schien in der fraglichen Zeit noch nicht gesichert; das „Wirtschaftswunder“ war erst noch im Begriff, die Arbeiterklasse zu integrieren; die Remilitarisierung der Bundesrepublik und deren Aufnahme in die NATO waren keineswegs schon gesellschaftlicher Konsens.
Diese Kampagne setzte mit dem sog. Adenauer-Erlass von 1950 ein. Mitglieder von Organisationen, die in einer von der Regierung erstellten Liste als Verfassungsfeinde deklariert waren – so neben der KPD die FDJ, die VVN, der Kulturbund, der Demokratische Frauenbund –, mussten als für den öffentlichen Dienst ungeeignet entlassen werden. Mit dem ersten Strafrechtsänderungsgesetz von 1951 wurden Straftatbestände wieder eingeführt, die es zum Beispiel ermöglichten, Organisatoren der vom Innenministerium verbotenen Volksbefragung gegen Remilitarisierung wegen Hochverrats zu bestrafen. Es gab viele Verurteilungen auf dieser strafrechtlichen Basis. Nach dem Verbot der KPD durch das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1956 wurden nach Schätzungen 7.000 bis 10.000 Menschen wegen Betätigung für die KPD oder einer ihr nahestehenden Organisation verurteilt, so der Vorsitzende der FDJ Jupp Angenfort zu 5 Jahren Zuchthaus (!).
Das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) reihte sich in diese Kampagne ein. In den ersten Nachkriegsjahren wurde in den westlichen Besatzungszonen – und nur um diese bzw. die Bundesrepublik geht es hier – kein politisch Verfolgter von der Entschädigung ausgeschlossen. Niemand hat gewollt oder jedenfalls sich zu fordern getraut, Menschen, die sich den Nazis entgegengestellt hatten, die juristische Anerkennung zu versagen und von einer Entschädigung auszuschließen. Ausgerechnet in dem politischen und organisatorischen Zentrum des Nazistaates wurde zuerst damit gebrochen. In dem inzwischen obsolet gewordenen Berliner Entschädigungsgesetz von 1951 ist dekretiert, dass „Personen, die als Anhänger eines totalitären Systems die demokratische Staatsform bekämpfen“ von der Entschädigung ausgeschlossen sind. Das Bundesergänzungsgesetz von 1953 hob einen Ausschlusstatbestand auf die Ebene des Bundes. 1956 schließlich verabschiedete der Bundestag einstimmig das seitdem maßgebende Bundesentschädigungsgesetz nach dem „von der Entschädigung ausgeschlossen ist, wer nach dem 23. Mai 1949 die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekämpft hat.“ Das Gesetz enthält eine Neuerung, die es in sich hat. Von politisch Verfolgten, oft in Folge von Folterungen und Haft in Konzentrationslagern krank und auf die Entschädigungsrente angewiesen, konnte nunmehr verlangt werden, Entschädigungsleistungen zurückzuzahlen, wenn ihnen die Anerkennung als Verfolgte wieder entzogen wurde.
Im gleichen Zug wurde das Geschichtsverständnis neu sortiert. Ein Beispiel dafür ist die Rede des Abgeordneten der SPD Adolf Arndt, die er in der Bundestagssitzung vom 2. November 1952 hielt. Arndt sieht „den Soldaten von Stalingrad (…) in den schwersten Konflikt, den Konflikt zwischen Vaterland und Menschheit, gestellt.“ „(…) der Opfergang des Widerstands (kann und darf) nicht herausgelöst werden aus dem Opfergang des ganzen deutschen Volkes. (…) aus der Gemeinschaft dieses Schicksals (…) möge eine Brücke werden zwischen den Männern und Frauen des deutschen Widerstands und denen, die durch die Soldaten von Stalingrad repräsentiert werden.“ Das sei „für den inneren Frieden der Nation das richtige Wort.“ Versöhnung! Die Angriffskriege und die so in der Geschichte noch nie gesehene verbrecherische Kriegsführung der Wehrmacht im Osten sind nun im Rückblick zu einem Opfergang von Kämpfern fürs „Vaterland“ geworden. Verschwunden ist die Einsicht, dass ein Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Faschismus besteht, eine Einsicht, die noch wenige Jahre zuvor Gemeingut aller Linken war. Politisches Geschick kann man der Rede Arndts zwar nicht absprechen, aber populär war seine Schicksalsbeschwörung bei denen nicht, die sagten oder nur dachten: „Die Amis haben das falsche Schwein geschlachtet“. Viele Deutsche sahen sich wirklich als die eigentlichen Opfer an, die vom Schicksal oder vom Dämon Hitler geschlagen waren. Das war der geistige Hintergrund für die heftigen Ressentiments in der Bevölkerung gegen die Entschädigung in den 50er und 60er Jahren.
Wie die genannten Regelungen im BEG in krassem Widerspruch zu seiner Präambel steht, nach der „der aus Überzeugung gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft geleistete Widerstand ein Verdienst um das Wohl des deutschen Volkes und Staates war“, so naturgemäß auch die Praxis der Entschädigungsbehörden und der Gerichte, die den gegebenen Interpretationsspielraum allerdings in aller Regel noch zuungunsten der politisch Verfolgten nutzten.
Jener Ausschlusstatbestand des BEG setzt ein Bekämpfen der „freiheitlich demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes“ voraus. Nominelle Mitgliedschaft allein genügte nicht. In der Praxis wurden die Kriterien für ein Bekämpfen so bestimmt, dass kaum ein von den Nazis verfolgtes Mitglied der KPD, der SEW (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands), des Demokratischen Frauenbunds und der FDJ einem Ausschluss entgehen konnte. Die Arbeit als Stenotypistin in einem Parteibüro reichte aus; die Verteilung eines Flugblatts zur geplanten Neuregelung der Sozialversicherung; die Tätigkeit als Kassiererin für den Demokratischen Frauenbund; ein Eintreten für die „Volksbefragung gegen die Remilitarisierung und für den Abschluss eines Friedensvertrages“; eine leitende Stellung im Dietz-Verlag; im Falle einer Jüdin, die Zwangsarbeit leisten musste, die Sammlung von Unterschriften für die Volksbefragung zur Ächtung von Atomwaffen; einem Pfarrer aus dem Westen, der gar kein Mitglied der KPD war, wurde eine Entschädigung verweigert, weil er den Stockholmer Apell gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr unterzeichnet hatte und sich zu einer Ansprache auf einer Kundgebung in Berlin-Treptow bereit erklärt hatte.
Menschen, die Sabotage geübt, sich militärischer Gewalt bedient oder Partisanen aus politischer Überzeugung geholfen hatten, hatten keine Chance auf Anerkennung. Für den Geist, der bei den Gerichten fast immer herrschte, wenn es um avancierte Formen des Widerstands ging, stehe der Leitsatz eines Urteils des OLG Köln: „Voraussetzung für einen Entschädigungsanspruch sind nur solche Widerstandshandlungen, die sich gegen typische Methoden und konkrete Träger der NS-Gewaltherrschaft gerichtet haben. Wenn sich ein deutscher Soldat von seiner Truppe entfernte und sich auf Seiten der polnischen Widerstandsbewegung im Kampf gegen seine Landsleute beteiligte, so kann darin nicht ein Bekämpfen der NS-Gewaltherrschaft gesehen werden.“ Geklagt hatte der Vater, dessen Sohn in Gefangenschaft der Wehrmacht geraten war und von einem Kriegsgericht zum Tode verurteilt wurde. Wäre Georg Elser als politisch Verfolgter anerkannt worden, hätte er das KZ Dachau überlebt? Sicher ist das für die beiden ersten Jahrzehnte der Existenz der Bundesrepublik nicht.
Abschließend zu einem Versuch, jenen Ausschlusstatbestand zu eliminieren. Im Jahr 1985 brachte die Fraktion der Grünen im Bundestag einen dann gescheiterten Gesetzentwurf zur Neuregelung des Entschädigungsrechts ein. Er war insgesamt weit einfacher und auch gerechter als das BEG, und er enthielt keinen Ausschluss von politisch Verfolgten.