Internationale Liga für Menschenrechte

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Neue Kriege – ein neuer Pazifismus? Menschenrechte als Mittel der Kriegslegitimation

Rezension

Wolfram Beyer (Hg.): Menschenrechte und Pazifismus – Wider kriegerische Menschenrechte – Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht. IDK, Berlin 2016, 38 S., 3 Euro, IDK-Schriftenreihe Nr. 5, ISBN 978-3-9816536-3-2

Zu den Problemen pazifistischer Politik gehört, dass Menschenrechte und Völkerrecht durchaus in Konflikt geraten können. Beide waren historisch wichtige Bezugspunkte der pazifistischen und antimilitaristischen Bewegungen, oft genug war „Pazifismus“ und „Völkerrecht“ beinahe identisch. Menschenrechte werden zunehmend als Legitimationsgrundlage militärischer Interventionen benutzt. Aber auch separatistische Bewegungen beziehen sich ebenso wie emanzipatorische Bewegungen auf Menschenrechte (als Abwehrrechte gegen die Staaten), ebenso aber auf das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“, dem jedoch die Ausführungsbestimmungen fehlen. Das Völkerrecht kann die alten Grundsätze nationalstaatlicher Souveränität und gegenseitiger Nichteinmischung, die lange als kriegsverhindernd galten, nicht mehr ohne Einschränkungen aufrechterhalten, wenn schwerste Verfolgungen bis zum Genozid als legitimer Kampf „gegen Terrorismus“ ausgegeben werden. Kurz: Wo man glaubt, eine sichere Basis zu finden, „Rechte“, dort finden sich oft „Auslegungsprobleme“, Interessengegensätze, die durch keine übergeordneten rechtlichen Instanzen befriedet werden.

Staaten sind nicht mehr die einzigen Akteure internationaler Politik. Wo sie agieren, verstoßen sie durch militärische und geheimdienstliche Interventionen und Abhörmaßnahmen und verdeckte Kriegführung oft genug gegen das Völkerrecht, vor allem aber die Menschenrechte. Brutale Unterdrückung der Opposition, Folter und Hinrichtungen sind alltägliche Praxis in vielen Staaten. Besonders die Verweigerung von Kriegsdiensten ist in vielen Ländern gesellschaftlich geächtet, wird schwer bestraft und ist nur unter bestimmten Bedingungen legal.
Mehr Probleme als hier auch nur aufzuzählen sind. Den Beginn einer notwendigen Diskussion bildet die Textsammlung, die die Internationale der Kriegsdienstgegner/innen (IDK) e.V. herausgegeben hat. Nach einer Einführung Wolfram Beyers, die gut Ambivalenzen der Berufung auf Menschenrechte darstellt und diese antistaatlich begründet, folgt ein Text, der von Wolf-Dieter Narr, Roland Roth und Klaus Vack schon 1999 anläßlich der NATO-Intervention gegen Jugoslawien verfasst wurde und in den entscheidenden Aspekten erstaunlich aktuell geblieben ist: Wider kriegerische Menschenrechte.

Dass die UNO als Staaten-Verbindung unter pazifistischer Perspektive nicht nur – wie in öffentlichen Diskussionen oft thematisiert – „Defizite“ zeigt, sondern vielmehr entmilitarisiert werden müßte, begründet Wolfram Beyer. Auch das „humanitäre Völkerrecht“ zielt lediglich auf eine Zivilisierung des Krieges ab. Ziel müßte statt dessen die Überwindung des Systems Staaten/Krieg durch zivile gewaltfreie Bewegungen und eine Entstaatlichung des internationalen Systems sein. Gernot Lennert fordert, dass Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht von der Bindung an „Gewissensgründe“ als alleiniger Legitimationsgrundlage für die Entscheidung, sich dem Krieg zu verweigern, abgelöst werden sollte. Dass der Krieg heute nicht mehr ausschließlich in den alten völkerrechtlichen Kategorien begriffen werden kann, zeigt Rolf Gössner am Beispiel des Informationskriegs der Geheimdienste. Durch die Beeinflussung von Medien und Öffentlichkeiten, durch Angriffe auf die Infrastruktur und geheimdienstliche Massenüberwachung können neue Formen von Macht ausgespielt werden. Auch die militärischen Interventionen, etwa mittels Drohnen, stellen ein ganz anderes Kriegsbild dar als die früheren eindeutigeren Frontverläufe, Massenheere und ganze Gesellschaften mobilisierenden Kriege. Auch eine Militarisierung im Innern ist unter dem Vorzeichen „asymmetrischer“ Kriege nach Gössners Ansicht wahrscheinlich geworden.

Die Broschüre schließt mit einem Aufruf, der Rekrutierung Minderjähriger für die Bundeswehr entgegenzutreten. Viele Staaten, die keine Wehrpflicht kennen (oder sie „ausgesetzt“ haben wie die Bundeswehr), haben Rekrutierungsprobleme und wenden sich deshalb an sehr junge Leute. Die IDK, die Internationale Liga für Menschenrechte (ILFM) und die DFG-VK Hessen fordern Jugendliche auf,
der Weitergabe ihrer Personendaten durch die Städte und Gemeinden an die Bundeswehr zu widersprechen.

Neue Kriege – ein neuer Pazifismus?
Pazifismus im 21. Jahrhundert

In eine zum Teil verwandte Richtung geht ein Papier der Graswurzelrevolution – Gruppe gewaltfreier AnarchistInnen Hannover, eine Diskussion über den Pazifismus im 21. Jahrhundert zu beginnen und Texte zur Selbstverständigung der PazifistInnen zu verfassen. (1)

Aus der Situationsbeschreibung:

„Viele Kriege werden seit Jahren geführt ohne Aussicht auf Frieden. Die Herausbildung von Kriegsökonomien führt dazu, dass zunehmend Gruppen innerhalb der Gesellschaften an Macht gewinnen, die an einer Aufrechterhaltung des Kriegszustandes ein Eigeninteresse haben. In Libyen kämpfen so inzwischen verschiedene bewaffnete Gruppen um die Vorherrschaft, die sich auf lokale Milizen, Strukturen der organisierten Kriminalität und Teilregionen stützen. Zugespitzt wird die Lage durch militärische Interventionen, die Neoethnisierung von Konflikten und die Spaltung der Bevölkerung entlang neoreligiöser Ideologien immer unter der Realität globalisierter Gesellschaften auch und gerade in den Kriegsgebieten. Viele Konflikte sind ‚eingefroren‘, was bedeutet, dass sie auch wieder zu ‚heißen‘ Kriegen werden, wenn entsprechende Interessenlagen dies nahelegen. Konflikte drohen auch angesichts ökonomischer Krisen und Konflikte um die Kontrolle knapper werdender Ressourcen zwischen den Großmächten und zwischen regionalen Mächten, die um Zugänge zu sauberem Wasser oder Bodenschätze konkurrieren. Verschärft werden alle diese hier nur skizzierten Probleme durch Weiterentwicklung und Weiterverbreitung von ABC-Waffen, durch Rüstungshandel vor allem mit Kleinwaffen, Waffenexporte und viele Konzeptionen, die Konflikte und gesellschaftliche Krisen militarisieren (etwa als ‚Krieg gegen Drogen‘, Krieg gegen aufständische oder widerspenstige Bevölkerungen, Krieg gegen Separatisten, Krieg gegen den Terror, Identitätspolitiken entlang neoreligiöser oder neoethnischer Linien, Rassismus, …). Es wird an vielen Stellen Krieg geführt oder vorbereitet.
Dabei hat der Krieg gleichzeitig ein neues Gesicht bekommen. Es gibt nicht mehr DEN Krieg, sondern viele, oft unübersichtliche Konfliktlagen, Interventionen auf unterschiedlichen Ebenen und dementsprechend auch eine Notwendigkeit, genau zu untersuchen, wo pazifistische Aktionen und Strategien jeweils ansetzen können, welche Mittel eingesetzt werden müssen.
Wir suchen positive Antworten, utopische und konkrete pazifistische gewaltfreie Handlungsalternativen für die globalisierte Welt heute und für eine pazifistische Zukunft.“

Im einzelnen werden technologische Aufrüstung, multiple Kriegführung, radikalisierte Entfremdung, Failed States und die Entstaatlichung des Krieges als neuere Tendenzen des Kriegssystems und mögliche herrschaftsfreie Alternativen behandelt.

Johann Bauer

Anmerkung:
(1) Das Papier sowie weitere Materialien unter: www.pazifismus.eu/aufruf.html

Diese Rezension erschien in der Zeitschrift graswurzelrevolution, für eine gewaltfreie herrschaftslose Gesellschaft, GWR 419, Mai 2017, S.24

Bestelladresse der IDK-Broschüre: http://www.idk-info.net/shop/idk-publikationen

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