taz-Reportage vom 5. April 2016
„Heimkinder mit Behinderung“ (pdf)
Die Liga-Publikation erfolgt mit freundlicher Unterstützung durch den Autors Paul Hildebrandt und durch taz-lizenzen.
Zweierlei Leid
Jahrzehntelang wurden Kinder in Behindertenheimen gequält. Die Verantwortlichen in Kirchen und Politik ducken sich bis heute weg.
Von Paul Hildebrandt
Als die Sechsjährige sich übergibt, zwingt Schwester Mathilde sie, auch das Erbrochene zu essen. Die kleine Ursula hat schweres Gelenkrheuma und leidet an Unterernährung. Deshalb presst die Schwester das Mädchen zwischen ihre Schenkel und stopft ihr Löffel für Löffel heißen Brei in den Mund. Weigert sich das Mädchen zu essen, schlägt die Pflegerin zu.
1957, acht Jahre danach, verlässt Ursula Lehmann die Behinderteneinrichtung des Johannesstifts in Berlin-Spandau. Sie zieht weg aus Berlin, macht eine Ausbildung, arbeitet und verdrängt das Erlebte: die Schmerzen, die Schläge, das Gefühl des Ausgeliefertseins. Erst ein halbes Jahrhundert danach beginnt sie, um Anerkennung für ihr Leid zu kämpfen.
Ursula Lehmann sitzt im Rollstuhl. Die 73-Jährige hat graue Haare, ein paar Strähnen leuchten in hellem Violett. Sie trägt eine schwarze Wolljacke, ihre Knie hält sie mit einer dicken Decke warm. „Mobilität“, sagt die energische Frau und steuert ihren elektronischen Wagen gekonnt durch den Berliner Hauptbahnhof, „ist mein wichtigstes Thema.“
Ursula Lehmann ist ein Mensch, der Probleme angeht. In den 1960ern politisch sozialisiert, engagiert sie sich seit Jahren ehrenamtlich in mehreren Arbeitsgemeinschaften zu Behindertenrechten. Während sie darauf wartet, dass ein leerer Fahrstuhl kommt und sie hoch zur S-Bahn-Ebene des Hauptbahnhofs fährt, sagt sie: „Wenn ich jemanden sehe, der meckert, dann frage ich: Und was tust du dagegen?“
Ein Kämpfernaturell
Lehmann hat schon mal den Berliner Senatsvorsitzenden als „Affenarsch“ beschimpft, weil er Senioren im Winter keinen Heizzuschlag bezahlen wollte, und sie hat Züge blockiert, um für mehr Barrierefreiheit zu kämpfen. Ursula Lehmann ist penetrant mit ihren Forderungen – oft hat sie damit Erfolg. Nur für ihre Vergangenheit bekommt sie noch immer keine Anerkennung.
Anfang Februar sitzen knapp 50 Menschen in einem Konferenzsaal des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales in Berlin-Mitte. BesucherInnen aus ganz Deutschland sind zu der Anhörung angereist, Ursula Lehmann ist eine von ihnen. Knapp 380.000 Betroffene, die Teile ihrer Jugend in Behinderteneinrichtungen und Psychiatrien verbracht haben, leben noch.
Viele von ihnen haben dort Misshandlungen erlebt, etliche mussten Zwangsarbeit leisten, niemand hat dafür je eine Entschädigung erhalten. Heute wollen sie das einfordern. Denn es gibt zwar längst einen Fonds für ehemalige Heimkinder: 120 Millionen Euro haben der Bund, die Länder und die Kirchen an nichtbehinderte Heimkinder gezahlt – aber Menschen mit Behinderungen sind davon ausgeschlossen.
„Warum“, fragt deshalb ein älterer Herr in einem alten Wollpullover, seine Stimme zittert leicht, „werden wir anders behandelt?“ Zustimmendes Gemurmel erfüllt den Saal – befriedigende Antworten gibt es keine.
Vom Runden Tisch ausgeschlossen
Offiziell ist die Unterscheidung reine Formsache, die Betroffenen sehen sich diskriminiert. Vom ersten runden Tisch, der sich 2009 mit der Aufarbeitung beschäftigte, wurden sie ausgeschlossen. „Die Bundesregierung praktiziert eine ganz gemeine Taktik“, sagt Lehmann nach der Anhörung, „die warten doch nur darauf, dass wir wegsterben.“
2011 hat die Bundesregierung das Leid der Heimkinder aus Behinderteneinrichtungen anerkannt, 2015 wurde endlich die Einrichtung eines Hilfsfonds beschlossen. Wann und in welchem Umfang die Betroffenen anerkannt werden, ist deshalb noch unklar – sicher ist: Die Zahlungen werden deutlich niedriger ausfallen als bei den anderen ehemaligen Heimkindern.
Knapp 220.000 Kinder und Jugendliche wurden zwischen 1949 und 1975 in westdeutschen Behinderteneinrichtungen und Psychiatrien untergebracht, schätzt die Arbeitsgruppe „Anerkennung und Hilfe“. In der ehemaligen DDR wird bis 1990 von einer ähnlichen Zahl ausgegangen. Der Arbeitskreis ehemaliger Heimkinder Deutschlands (AeHD) kritisiert die schleppend verlaufende geschichtliche Aufarbeitung und die Hürden bei der Anerkennung.
Ursula Lehmann redet nicht gern über ihre Vergangenheit. Schon seit mehr als dreißig Jahren wohnt sie in einer Zweizimmerwohnung am Berliner Stadtrand, im westlichen Teil von Spandau. „Ich bin fast nur noch zum Schlafen hier“, sagt Lehmann, räumt ein paar Akten zur Seite und sagt:. „Die meiste Zeit verbringe ich in der Stadt.“
Lehmann ist auf Hilfe im Alltag angewiesen, mit ihren Händen kann sie kaum etwas greifen. Weil sie unabhängig bleiben will, bezahlt sie eine Frau aus der Nachbarschaft für ihre Pflege. An den gelb gestrichenen Wänden hängen Bilder aus dem Filmmuseum – keines der Fotos zeigt die kleine Frau im Rollstuhl. Zu ihrer Familie hat sie praktisch keinen Kontakt, ihre drei Geschwister leben ihr eigenes Leben, die Eltern sind längst verstorben. Obwohl sie in verschiedenen Gremien zu Behindertenrechten sitzt, ist Lehmann eine Einzelkämpferin. Gruppen, sagt sie, interessieren sie nicht. Ihre Lebensgeschichte ist sicherlich ein Grund dafür.
Schwarze Pädagogik
Ursula Lehmann kommt mitten im Krieg zur Welt. In den Nachkriegsjahren kämpft ihre Mutter als Trümmerfrau ums Überleben, ihr Vater ist da längst tot. Weil auch die Großmutter mit den körperlichen Problemen ihres Enkelkindes überfordert ist, übergibt sie die Verantwortung dem Heim. 1949 wird Ursula im Johannesstift eingeschult. Von da an ist sie auf sich allein gestellt, jeder Kontakt zu ihrer Familie bricht ab. Das Stift, sagt sie, habe sich nie die Mühe gemacht, ihn wiederherzustellen.
Die Zeit im Evangelischen Johannesstift ist geprägt von Angst: Knapp 70 Kinder und Jugendliche leben zusammen in der Einrichtung, regelmäßig werden sie von den Schwestern geschlagen, Lehmann selbst wird zum Laufen und Treppensteigen gezwungen. Trotz des Gelenkrheumas, das ihre Knochen verformt, muss sie in der Schule manchmal stundenlang in einer Ecke stehen – die Schmerzen sind Teil der Erziehung.
Die Pädagogik der Nachkriegsgesellschaft sieht in den Behinderungen Defizite, die es notfalls mit Gewalt auszubessern gilt. Die Kinder sollen „in die Gesellschaft eingepasst werden“. Eine Heimleiterin erklärt 1960: „Bei der Erziehung dieser Kinder kann nicht früh genug mit der Ertüchtigung für das öffentliche Leben begonnen werden.“ AnsprechpartnerInnen hat die minderjährige Ursula Lehmann keine, die staatliche Heimaufsicht unterstützt die Methoden. Was macht das mit einem?
Heute sagt Lehmann: „Die Erfahrungen in dem Heim haben mein Engagement provoziert, ich wehre mich jetzt.“ Durch Zufall bekommt sie 1957 eine Ausbildungsstelle als Verwaltungsfachfrau in Nordrhein-Westfalen. Sie geht weg aus Berlin, beginnt zu arbeiten und baut sich ein eigenes Leben auf. Über die Jahre im Stift redet sie mit niemandem.
Keine psychologische Hilfe
Das Johannesstift, in dem Lehmann sechs Jahre ihrer Kindheit verbracht hat, liegt nur wenige Kilometer nördlich ihrer heutigen Wohnung – treffen möchte sie sich dort trotzdem nicht. Es ist ein großes Gelände, direkt am Wald: ruhig, grün, ein Wohlfühlort. Noch immer gibt es hier eine Behinderteneinrichtung. Es sind dieselben roten Backsteinhäuser, in denen sie damals untergebracht war, große Eichen säumen die Straße, hier gab es nie einen historischen Bruch. Erst ein veröffentlichter Bericht von Ursula Lehmann über ihre Kindheit im Heim bringt das Johannesstift 2011 dazu, die eigene Geschichte aufzuarbeiten.
„Es geht mir nicht um Entschädigung, sondern um Anerkennung“, sagt Ursula Lehmann über die Gründe ihres Engagements und fragt wütend: „Wie kann dit sein, dass die Täterinnen in aller Ruhe ihren Lebensabend verbringen können?“ Wenn sich die energische Frau ärgert, wird ihr Berliner Dialekt stärker, sie redet dann schneller und ihre Stimme wird heiser.
Sie erzählt, dass sie viele Jahre nachts schreiend aufgewacht ist. Warum, das weiß sie nicht – psychologische Hilfe hat sie nie bekommen. Also flüchtet sich Lehmann nach vorn, ihr Engagement verdrängt das Gefühl, Opfer zu sein. An der Badezimmertür steht auf einem Kalenderblatt: „Eine spitze Zunge ist in manchen Ländern schon unerlaubter Waffenbesitz.“
Es sind bürokratische Hürden, die die Schaffung eines Hilfsfonds behindern. Alle teilnehmenden Parteien, die Kirchen, Länder und der Bund, haben bereits ihre Zustimmung erklärt. Einzig: Es hadert noch immer an der Finanzierung, die Finanzminister einzelner Länder stellen sich quer. Im Juni 2016 wolle man die Arbeit für den Fonds beendet haben, erklären VertreterInnen des Arbeitskreises „Anerkennung und Hilfe“. Die Aufarbeitung der Geschichte der Behindertenheime kommt Jahre zu spät. Viele der Betroffenen sind längst gestorben.
Die Aufarbeitung kommt zu spät
Vor sechs Jahren gingen ehemalige Heimkinder erstmals auf die Straße, um Entschädigung zu fordern. Warum so spät? „Damals dachte ich, es wäre normal, wie wir behandelt wurden“, beschreibt Lehmann ihre persönliche Aufarbeitung, „erst als ich mit anderen Betroffenen in Kontakt gekommen bin, ist mir klar geworden, was dort passiert ist.“ Bis in die 1990er hinein haben Bund und Kirchen die Misshandlungen bestritten, erst jetzt beginnt die langsame Aufarbeitung.
Wie Ursula Lehmann haben viele Betroffene ganz andere Sorgen: Lehmann lebt von einer 500-Euro Rente, im Moment streitet sie wieder einmal mit der Krankenkasse.
Nur einmal noch trifft sie auf ihre Vergangenheit. Es ist eine Jubiläumsveranstaltung Ende der 1960er, eine Freundin aus dem Heim hat sie eingeladen. Lehmann ist Anfang 20, gerade hat sie ihren ersten Job angetreten. Als sie den Raum betritt, sieht sie ihre ehemalige Pflegerin, Schwester Mathilde, auf einem Sofa sitzen und plaudern. „In dem Moment hatte ich wieder Angst“, sagt Lehmann. „Ich konnte sie nicht mit meiner Vergangenheit konfrontieren.“ Erst Jahre später kommt sie das nächste Mal in ihr altes Heim. Das Personal ist da längst ausgetauscht, der Historiker beschäftigt sich jetzt mit ihrer Vergangenheit.
Zweierlei Entschädigung
Heimerziehung: Hunderttausende Kinder wurden in west- und ostdeutschen Heimen misshandelt und zur Arbeit gezwungen. Erst 2012 richteten die Sozialministerien der Länder, des Bundes und die Kirchen Fonds für die geschätzten 800.000 noch lebenden Betroffenen ein. 300 Euro für jeden gearbeiteten Monat sowie Sachleistungen als Entschädigung für erlittenes Leid sollten ausgezahlt werden. Dafür mussten die Betroffenen ihre Leidensgeschichte „schlüssig dargelegen“.
Heimfonds: 2009 initiierte die Bundesregierung einen „Runden Tisch“, der jedoch kein Unrechtssystem erkennen konnte – man verwies auf einzelne Unrechtserfahrungen. Nur etwa 4 Prozent der Betroffenen unterzogen sich dem Verfahren.
Neuer Fonds: Menschen, die in Behinderteneinrichtungen und Psychiatrien untergebracht waren, sollen nun auch entschädigt werden – mit deutlich weniger Geld: statt 300 Euro pro Monat sollen bei mehr als zwei Jahren Arbeit einmalig 5.000 Euro gezahlt werden. Die Grenze der Entschädigungssumme liegt bei 9.000 Euro.