Bürgerrechtliche Gegenwehr gegen Überwachungswahn und staatliches Unrecht
Der mit 10.000 € dotierte Berliner Preis für Zivilcourage 2014 wurde am 22. Juni 2014 in Berlin dem ehemaligen NSA-Mitarbeiter Edward Snowden für sein mutiges Eintreten für Demokratie und Bürgerrechte verliehen. Die Preissumme ist einer zivilgesellschaftlichen Solidaritätsinitiative von über 123 BürgerInnen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz sowie aus Belgien, Brasilien, Frankreich, Kanada, Nepal und den USA zu verdanken, die jeweils 100 € spenden.
Als einer der Mitunterstützer des Berliner Preises für Zivilcourage 2014 an Edward Snowden möchte ich den beiden Initiatoren Jürgen Hofmann und Alexander Richter ganz herzlich für ihre so sympathische Aktion praktischer Solidarität danken, die ich gerne unterstützt habe. Außerdem möchte ich im Namen der Internationalen Liga für Menschenrechte, deren Vorstand ich angehöre, eine Grußbotschaft an Edward Snowden nach Moskau und an alle hier Versammelten aussenden. Wie manche vielleicht wissen, hat die Liga zusammen mit ChaosComputerClub und Digitalcourage Snowdens historisch einmaligen Enthüllungen zum Anlass genommen, im Februar beim Generalbundesanwalt Strafanzeige zu erstatten gegen Bundesregierung und Geheimdienst-Verantwortliche. Warum? 1. Wegen massiver Verstrickung bundesdeutscher Geheimdienste in das globale Massenüberwachungssystem, 2. wegen millionenfacher Verletzung der Privatsphäre, 3. wegen sträflich unterlassener Abwehrmaßnahmen zum Schutz der Bevölkerung. Für uns war es ein Versuch, die gesellschaftliche Duldungsstarre, die wir allenthalben spürten, zu durchbrechen und die politisch und strafrechtlich Mitverantwortlichen endlich zur Rechenschaft zu ziehen. Und siehe da: Dieser Akt der Notwehr und Nothilfe wirkte tatsächlich wie eine Art Ventil, das plötzlich geöffnet wird: Tausende haben sich gemeldet und unterstützen die Strafanzeige.
Bekanntlich hat Generalbundesanwalt Harald Range inzwischen ein Strafermittlungsverfahren eingeleitet – aber nur wegen des unfreundlichen Spionage-Angriffs auf das Handy der Kanzlerin, nach dem Motto: ‚Abhören von Freunden, das geht gar nicht’. Unseres Erachtens eine halbherzige, offenkundig politisch motivierte Kompromissentscheidung, die an der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz zweifeln lässt. Denn auf ein Ermittlungsverfahren wegen der ungleich schwerer wiegenden massenhaften Ausspähung der ganzen Bevölkerung verzichtet der Generalbundesanwalt – kurioserweise mangels „zureichender Tatsachen“.
Der oberste bundesdeutsche Ankläger schreckt also vor einer konsequenten strafrechtlichen Verfolgung der Verantwortlichen zurück – nach nunmehr einem Jahr seit Bekanntwerden dieser – so Snowden – „größten verdachtsunabhängigen Überwachung in der Geschichte der Menschheit“. Trotz der Fülle von Belastungsbeweisen und -zeugen hier immer noch einen Anfangsverdacht zu leugnen, ist Ausdruck von Realitätsverleugnung, Willfährigkeit, womöglich Vertuschungstendenz – jedenfalls hart an der Grenze zur Strafvereitelung im Amt und passend zur regierungsamtlich organisierten Verantwortungslosigkeit.
Doch wir werden nicht lockerlassen. Einstweilen halten wir diese Verweigerungshaltung für eine Kapitulation des Rechtsstaats vor staatlichem Unrecht. Die demokratisch kaum kontrollierbaren Geheimdienste können sich so jeder Verantwortung entziehen, können munter weitermachen wie bisher – ja, sollen auch noch weiter aufgerüstet und massenüberwachungstauglicher gemacht werden. Obwohl doch deutsche Geheimdienste, insbesondere der Auslandsgeheimdienst BND, längst schon aufs Engste in den menschenrechtswidrigen NSA-Geheimverbund verflochten sind, ebenso wie in den US-„Krieg gegen den Terror“. Sie alle „liegen in einem Bett“, wie Snowden weiß, teilen Systeme und Spähprogramme und tauschen massenhaft Daten aus.
Doch der BND soll sich künftig offenbar von NSA & Co. emanzipieren und aus der Krise gestärkt hervorgehen. Was wir gerade erleben ist kein Insichgehen, kein Innehalten angesichts dieses unglaublichen Riesenskandals – nein, im Gegenteil: Wir werden Zeugen eines Wettrüstens in einem globalen Informationskrieg der Geheimdienste. Dabei geht es nicht zuletzt auch um geostrategische Interessen, um wirtschaftliche Einflusszonen, Krisenverhütung und Rohstoffsicherung – bis hin zu militärischen Interventionen.
Um nun die bundesdeutschen Gehilfen und mutmaßlichen Mittäter im aggressiven Zusammenspiel westlicher Geheimdienste dingfest zu machen, haben wir – Liga, Digitalcourage, ChaosComputerClub und andere Bürgerrechtsgruppen – im April das Bundeskanzleramt mit dem berühmt-berüchtigten Negativpreis BigBrotherAward ausgezeichnet. Denn just in dieser politischen Machtzentrale sitzen die Hauptverantwortlichen dafür, dass deutsche Geheimdienste in die NSA-Überwachungsstruktur verzahnt sind, dass Deutschland das am stärksten überwachte Land Europas ist und dass notwendige Abwehr- und Schutzmaßnahmen unterlassen wurden, zu denen die Regierung verfassungsrechtlich verpflichtet ist. Ich hatte die „Ehre“, die „Laudatio“ auf das Kanzleramt und seine Hausherrin zu halten – nicht ohne eine gewisse Genugtuung, obwohl: Abgeholt hat die künstlerische Preistrophäe seltsamerweise bis heute niemand.
Die digitale Durchleuchtung ganzer Gesellschaften stellt alle Menschen, die auf irgendeine Art elektronisch kommunizieren, unter Generalverdacht, sie unterhöhlt die Unschuldsvermutung, führt zu massenhafter Verletzung von Persönlichkeitsrechten, stellt verbriefte Grundrechte, ja die Demokratie insgesamt in Frage. Diese maßlose Ausforschungspraxis ist Folge einer Politik, die Sicherheit zur Kriminalitäts- und Terrorabwehr über alles stellt – frei nach einem Ex-Bundesinnenminister, der verbriefte Grund- und Freiheitsrechte einem frei erfundenen „Supergrundrecht Sicherheit“ unterordnete. Diese verfassungswidrige Sicht, die längst die herrschende Sicherheitspolitik prägt, führt letztlich in einen entfesselten Präventions- und Sicherheitsstaat, in dem rechtsfreie Räume gedeihen, Rechtssicherheit und Vertrauen allmählich verloren gehen.
Unkontrollierte freie Kommunikation ist Quintessenz freiheitlich demokratischer Gesellschaften. Denn überwachte Menschen sind niemals frei, sie ändern allmählich ihr Verhalten, werden unsicher, entwickeln Ängste, passen sich an – Auswirkungen, die den demokratischen Rechtsstaat schädigen, wie übrigens das Bundesverfassungsgericht schon vor über dreißig Jahren in seinem berühmten Volkszählungsurteil festgestellt hat. Oder die frühere Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach: „Eine demokratische politische Kultur lebt von der Meinungsfreude und dem Engagement der Bürger. Das setzt Furchtlosigkeit voraus. Diese dürfte allmählich verloren gehen, wenn der Staat seine Bürger biometrisch vermisst, datenmäßig durchrastert und seine Lebensregungen elektronisch verfolgt.“
Was wir erleben sind Angriffe aggressiver Staatssicherheitsinteressen auf die Substanz, auf das Selbstverständnis freiheitlicher Demokratien – Attacken nicht etwa von außen, von „extremistischen“ oder terroristischen Kräften, sondern aus dem Inneren des Systems – wie eine überschießende Reaktion des Immunsystems, das zerstört, was es schützen sollte: Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte.
Ich komme zum Schluss: Was wir – außer rückhaltloser Offenlegung und Aufklärung – dringend brauchen ist eine gesellschaftspolitische Debatte über Transparenz, Kontrolle und Grenzen der Überwachung in einer Demokratie; wir brauchen eine Debatte über Existenzberechtigung und Legitimation geheimer, schwer kontrollierbarer Institutionen. Gerade hier haben Edward Snowden, Chelsea Manning, Julian Assange, andere Whistleblower und ihre Unterstützer_innen sensationelle Pionierarbeit geleistet und enormen Mut bewiesen. Das Whistleblowertum hat im digitalen Zeitalter und in einer globalisierten Welt eine geradezu existentielle Bedeutung gewonnen und muss endlich menschen- und völkerrechtlich wirksam geschützt werden.
Edward Snowden hat mit seiner Gewissens- und Lebensentscheidung seine persönliche Freiheit riskiert, um die unsere zu schützen. Es ist nun auch unsere bürgerrechtliche Aufgabe, ihn tatkräftig, phantasievoll, in praktischer Solidarität zu unterstützen – so wie es auch hier und heute geschieht. Und lasst uns darüber hinaus für eine Kultur des Whistleblowing streiten, die es in der Bundesrepublik im Fall menschenrechtswidriger Tendenzen leider noch nicht ansatzweise gibt. Was uns fehlt und was wir dringend brauchen: einen Snowden im BND und im „Verfassungsschutz“! Und jede Menge Zivilcourage. So könnte die bundesdeutsche Zivilgesellschaft ihre Vorreiterrolle – die ihr ja Edward Snowden im Kampf gegen Massenüberwachung bescheinigt – glaubwürdig ausbauen und sich als neue Bürgerrechtsbewegung gegen Regierungen und Geheimdienste wirksamer positionieren.
© Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt/Publizist, Vizepräsident der Internat. Liga für Menschenrechte (www.ilmr.de). Stellv. Richter am Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen, Mitherausgeber des „Grundrechte-Reports“ (www.grundrechte-report.de), Mitglied der Jury zur Verleihung des Negativpreises „BigBrotherAward“ (www.bigbrotherawards.de). Autor zahlreicher Bücher, zuletzt:
– „Menschenrechte in Zeiten des Terrors. Kollateralschäden an der Heimatfront“, Hamburg 2007.
– „Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Neonazis im Dienst des Staates“, München 2003; akt. Neuaufl. als ebook 2012, München: http://amzn.to/HQcOU2. Internet: www.rolf-goessner.de Gössner gehört zu den Miterstattern der Strafanzeige gegen Geheimdienste und Bundesregierung (2/2014) und ist Mitautor der Broschüre „Spionage adé. Massenüberwachung und globale Datenspionage: Wir erstatten Strafanzeige gegen Bundesregierung und Geheimdienste“ (Bielefeld 2014). Bezug: https://shop.digitalcourage.de/broschuere-spionage-ade.html