Internationale Liga für Menschenrechte

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Heillos verstrickt: Neonazis und Verfassungsschutz

Die unglaubliche Neonazi-Mordserie mit zehn Toten, ihre skandalöse Nichtaufklärung und die dubiose Rolle des Verfassungsschutzes (VS) haben uns in den vergangenen Monaten schockiert und in Atem gehalten. Die Verbrechen der „Zwickauer Zelle“ um die Nazi-Terrorgruppe „NSU“, denen außer zehn Morden, mehrere Sprengstoffanschläge und bewaffnete Banküberfälle angelastet werden, haben die extreme Gefahr durch rechtsextreme Gewalt endlich in den gesellschaftlichen Fokus gerückt. Die Untersuchung der Hintergründe und Netzwerke der rechtsterroristischen Zelle und ihrer Mordtaten hat begonnen, ebenso die Aufklärung darüber, warum die Gefahren des Neonazismus ganz offensichtlich von Sicherheitsbehörden seit vielen Jahren systematisch unterschätzt wurden. Das offizielle Deutschland zeigte sich jedenfalls bass erstaunt und steht mit offenem Mund am Anfang seiner Erkenntnisgewinnung.

Öffentliches Erstaunen
Dieses öffentliche Erstaunen über den Neonaziterror ist ganz besonders auf dem Hintergrund der deutschen Geschichte schockierend – und angesichts der Tatsache, dass seit 1990, also dem Jahr der deutschen Vereinigung, mehr als 150 Menschen von Neonazis und anderen fremdenfeindlich eingestellten Tätern umgebracht wurden – jetzt müssen wir mindestens zehn weitere Opfer dazurechnen. Die Terrorangriffe gegen Asylbewerber, türkische Männer, Frauen und Kinder, gegen Obdachlose und Behinderte, gegen Juden und Linke gehen weiter. Und die Täter sind mitten unter uns. Das mörderische Phänomen ist also keineswegs neu – auch wenn sich viele Sicherheitspolitiker vollkommen überrascht geben, obwohl schon in den 80er Jahren 35 Menschen in Westdeutschland durch rechte und rassistisch motivierte Gewalt ums Leben kamen. Wie reagierte der Staat auf den seit 1990 erstarkenden Neonazismus und auf die eskalierende rechte Gewalt? Die Sicherheitsorgane des Bundes und der Länder, also Polizei, Verfassungsschutz und Justiz, haben diese Gefahr verharmlost, redeten gerne von Einzeltätern, leugneten organisatorische Zusammenhänge, verhielten sich indifferent oder dilettantisch und haben damit schon frühzeitig, aber bis hinein in die jüngere Zeit falsche Zeichen gesetzt. Die VS-Behörden des Bundes und der Länder versagten schon in den 1980er und 90er Jahren als ”Frühwarnsystem”, das sie eigentlich sein sollen und wollen. Weder konnten sie die Zunahme rechter Organisationen und Aktivitäten vorhersagen und erklären noch die Zunahme rassistischer Gewalttaten. Und lange Zeit bagatellisierten sie die organisatorischen Qualitäten rechter Gruppierungen – obwohl es längst starke Ansätze zur Organisierung und Vernetzung gab und auch zu rechtem Terror. Und diese Verharmlosung und Blindheit auf dem rechten Auge setzte sich offenbar bis in die Gegenwart fort. Professionalität sieht anders aus. Speziell im aktuellen Fall der Neonazi-Mordserie und der offensichtlichen Nichtermittlung ihres rassistischen Hintergrunds kann man kaum von Unfähigkeit, Dilettantismus, Pannen oder Konfusion des polizeilichen Staats- und geheimdienstlichen Verfassungsschutzes sprechen, stattdessen von ideologischen Scheuklappen der traditionell antikommunistisch geprägten Sicherheitsorgane, von Ignoranz und systematischer Verharmlosung des neonazistischen Spektrums – begünstigt durch eine jahrzehntelang einseitig ausgerichtete Politik der „Inneren Sicherheit“. Jedenfalls wurde im Zusammenhang mit der Mordserie der rassistische Hintergrund nie ernsthaft erwogen und ausgeleuchtet – obwohl der Verfassungsschutz mit seinen zahlreichen V-Leuten an den späteren Tätern und nach deren Abtauchen auch an deren Kontaktpersonen ganz nah dran war. Terror und Gewalt, Bedrohungen und Gefahren für Demokratie und Verfassung werden immer noch, den alten Feindbildern folgend, in erster Linie mit „Linksextremismus“ sowie mit „Islamismus“ assoziiert – und hier werden dann bekanntlich alle Register gezogen, die den Sicherheitsbehörden zur Verfügung stehen und die im Zuge des exzessiven Antiterrorkampfes der 1970er Jahre und besonders seit 9/11 noch erheblich ausgebaut und verschärft wurden. Ermittlungsbefugnisse und Maßnahmemöglichkeiten hätte es also mehr als genug gegeben. Gleichwohl werden die Mordfälle und das Versagen der Sicherheitsbehörden dazu genutzt, reflexhaft weitere Nachrüstungsmaßnahmen für die Versager durchzusetzen.

Kriminelles V-Leute-System
Im Laufe der Jahre, verstärkt seit dem „Vereinigungsjahr“ 1990, ist in der Neonazi-Szene ein regelrechtes Netzwerk aus Spitzeln und Agents provocateurs entstanden – ein undurchdringliches Gestrüpp aus braunen Parteien, Neonazi-Gruppen, VS und seinen dubiosen Zuträgern. Die infiltrierenden VS-Aktivitäten in den gewaltbereiten Neonazi-Szenen bergen enorme Gefahren, die ich bereits 2003 in meinem Buch „Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Kriminelle im Dienst des Staates“ (Knaur-Verlag, München) an vielen Fallbeispielen umfassend aufgedeckt habe. Mein damaliges Fazit, das sich bis heute bestätigt hat: Über seine angeworbenen, gedungenen und bezahlten V-Leute – im rechtsextremen Spektrum handelt es sich um hart gesottene Neonazis, gnadenlose Rassisten, nicht selten um Gewalttäter – verstrickt sich der VS fast zwangsläufig in kriminelle Machenschaften, wobei auch Straftaten geduldet oder indirekt gefördert werden. Brandstiftung, Totschlag,
Mordaufrufe, Waffenhandel, Gründung einer terroristischen Vereinigung – das sind nur einige der Straftaten, die „Vertrauensmänner“ des VS im Schutz ihrer Tarnung begingen und begehen. Und ihre V-Mann-Führer im VS, mit rechtsorientierter Gesinnung bestens vertraut, verhalten sich im Umgang mit ihren V-Leuten oft vertrauensselig, so dass mitunter von einer regelrechten Kumpanei gesprochen werden kann – zumindest aber von Distanzlosigkeit. „Klein-Adolf“, der hessische V-Mann-Führer, der bei einem der Morde anwesend war, ist hierfür mutmaßlich nur ein besonders eklatantes Beispiel, das immer noch der vollen Aufklärung harrt. Im Fall des Nichtermittlungsskandals rund um die „Zwickauer Zelle“ waren das Bundesamt für VS sowie der Thüringische VS mit mehreren V-Leuten – etwa Tino Brandt, alias „Otto“ – auch in jenen Neonazi-Gruppen wie dem „Thüringer Heimatschutz“ hautnah dran, in denen die späteren Mörder organisiert waren. Deshalb ist es besonders unverständlich, weshalb drei Neonazis, denen bereits terroristische Straftaten vorgeworfen wurden, nach Erlass eines entsprechenden Haftbefehls einfach über mehr als ein Jahrzehnt untertauchen und unbehelligt quer durch die Republik eine ganze Serie von Morden an Migranten und einer Polizistin begehen konnten. Diese Mordserie hätte möglicherweise verhindert werden können, wenn der VS Erkenntnisse hinsichtlich verbrecherischer Straftaten und möglicher Wohnorte der Untergetauchten und ihrer Unterstützer rechtzeitig an die Polizei weitergegeben hätte, wozu er – ungeachtet des nach wie vor gültigen Gebots der Trennung von Geheimdiensten und Polizei – gesetzlich verpflichtet war, wenn es um Verbrechen geht. Dazu brauchte es keinerlei Nachrüstungsmaßnahmen zur besseren Vernetzung von VS und Polizei. Das vielleicht Erschreckendste, was ich bei meinen Recherchen selbst erfahren musste, ist, dass der VS seine kriminell gewordenen V-Leute oft genug deckt, systematisch gegen polizeiliche Ermittlungen abschirmt, um sie weiter abschöpfen zu können – anstatt sie unverzüglich abzuschalten. Auch im Zusammenhang mit der Neonazi-Mordserie hat der VS polizeiliche Fahndungsmaßnahmen torpediert und seinen braunen V-Leuten etwa polizeiliche Observationen verraten. Dieses Verhalten nennt man Strafvereitelung sowie psychische Unterstützung und Beihilfe zu Straftaten. Das ist zwar strafbar, doch die VS-Verantwortlichen sind dafür nie zur Rechenschaft gezogen worden – selbst wenn durch dieses Verhalten unbeteiligte Personen schwer geschädigt wurden.

Fremd in der Demokratie
Der Staat hat also die Neonazi-Szenen und -Parteien über seine bezahlten Spitzel letztlich mitfinanziert, rassistisch geprägt, geschützt und gestärkt, anstatt sie zu schwächen. Abertausende Euros flossen auf diese Weise in Neonazistrukturen. Letztlich ist der Verfassungsschutz über sein V-Leute-Netz selbst Teil des Neonazi-Problems geworden, jedenfalls konnte er, wie wir sehen, kaum etwas zu dessen Lösung oder Bekämpfung beitragen. So hat er Demokratie und Bürgerrechten jedenfalls mehr geschadet als genützt. Im Übrigen haben sich trotz der hohen Zahl an V-Leuten in den Neonazi-Szenen die VSErkenntnisse nicht nennenswert gesteigert: Was der VS mit Millionenaufwand bisweilen zutage förderte, war für Kenner der braunen Szene nicht gerade erhellend. Ein gut ausgestattetes politikwissenschaftliches Institut hätte die Rechtsentwicklung jedenfalls ohne dubiose Methoden und ideologische Scheuklappen, dafür mit wesentlich besseren diagnostischen und analytischen Fähigkeiten erforschen und erklären können.

Fazit: Der „Verfassungsschutz“, der dem Schutz von Verfassung und Demokratie dienen soll, trägt einen euphemistischen Tarnnamen. Denn in seiner Ausprägung als Inlandsgeheimdienst ist er selbst Fremdkörper in der Demokratie, weil er mit seinen geheimen Strukturen, Mitteln und Methoden demokratischen Prinzipien der Transparenz und Kontrollierbarkeit widerspricht. Das zeigt sich jetzt beim Versuch der Aufarbeitung der NSU-Mordserie wieder in erschreckender Weise – bis hin zum Schreddern wichtiger Akten. Solchen intransparenten, skandalgeneigten, kontrollresistenten und damit demokratiewidrigen Institutionen, die Demokratie und Bürgerrechten mehr schaden als nützen, gehört die Lizenz zu Gesinnungsschnüffelei und Infiltration entzogen – übrigens voll in Einklang mit dem Grundgesetz, das keinen Verfassungsschutz als Geheimdienst vorschreibt.

Nachdruck in leicht veränderter Fassung aus „Die Rote Hilfe“ 2/2012, S. 30-31;
Erstveröffentlichung in: Hamburg Debatte Nr. 6 – März 2012.
Nachdruck nur mit Zustimmung.

Zu diesem Themenkomplex siehe auch die aktuellen Beiträge unter „Verfassungsschutz enttarnen“:
http://ilmr.de/2012/verfassungsschutz-enttarnen

sowie ausführlich:
Rolf Gössner
GEHEIME INFORMANTEN
V-Leute des Verfassungsschutzes: Neonazis im Dienst des Staates
e-book/neobooks 2012 bei Droemer-Knaur, München
ISBN: 9783426430507, ca. 300 Seiten
Weitere Informationen unter:
www.rolf-goessner.de/Geheime%20Informanten%202012%20Faltblatt%20lfd%20Reihg.htm
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© Dr. Rolf Gössner arbeitet als Rechtsanwalt und Publizist in Bremen. Er ist Vizepräsident der Internationalen
Liga für Menschenrechte, stellv. Richter am Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen
und vertritt als Parteiloser die Fraktion „Die Linke“ in der Deputation für Inneres der Bremischen
Bürgerschaft. Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren des Bundestags und von Landtagen. Mitherausgeber
des jährlich erscheinenden „Grundrechte-Report. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte
in Deutschland“ (Fischer-TB) sowie der Zweiwochenschift für Politik/Kultur/Wirtschaft „Ossietzky“
(Hannover/Berlin). Mitglied in der Jury zur Verleihung des Negativpreises BigBrotherAward. Autor
zahlreicher Bücher zum Thema Innere Sicherheit und Bürgerrechte, zuletzt: Geheime Informanten. VLeute
des Verfassungsschutzes: Neonazis im Dienst des Staates(München 2003; akt. Neuauflage als
e-book 2012 bei Knaur-Verlag, München. Direktlink: http://bit.ly/J8XWNC ).
Internet: www.rolf-goessner.de

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