Pressemitteilung
anlässlich der Verhandlung am 30. Mai 2012
vor der 1. Großen Strafkammer des Magdeburger Landgerichts
zur Aufklärung des Verbrennungstodes von Oury Jalloh im Polizeigewahrsam
Die als Zeugin geladene damalige Polizeipräsidentin Brigitte Scherber-Schmidt muss sich zu rassistischen Umtrieben in der Dessauer Polizei äußern!
Morgen, am Mittwoch den 30. Mai 2012 wird Brigitte Scherber-Schmidt vernommen. Sie war als Präsidentin der Dessauer Polizeidirektion Ost für die gesamte Dessauer Polizei zuständig, demnach auch für das Revier, in dem Oury Jalloh am 7. Januar 2005 bei lebendigem Leibe verbrannte.
Die derzeit als Ministerialrätin in der Abteilung 2 für Öffentliche Sicherheit und Ordnung des Innenministeriums Sachsen-Anhalt tätige Scherber-Schmidt wird nicht zum ersten Mal in dieser Sache vor Gericht vernommen.
Morgen wird sie sich allerdings zu Fragen erklären müssen, wie ernsthaft sie rassistischen Umtrieben in der ihr untergebenen Polizei entgegengetreten ist und wie rechtsstaatlich es in den Revieren zuging und zugeht. Sie wird mit Aussagen konfrontiert werden, dass ihr Mitteilungen darüber zugegangen seien, die besagen, Polizeibeamte des Reviers Dessau-Rosslau seien wegen ihres Umgangs mit ausländischen Bürgern öfter unangenehm aufgefallen. Demnach war sie über das Revier informiert. Im Raum steht also die Frage, weshalb sie solchen Mitteilungen, die sowohl im Innenministerium als auch von Polizeikollegen aus anderen Orten offen angesprochen worden waren, nicht umgehend nachging, sondern diese vielmehr auf sich beruhen ließ.
Die damalige Polizeipräsidentin konnte immerhin zu keinem Zeitpunkt ausschließen, dass der Hinweis, Polizeibeamte seien im Zusammenhang mit ausländischen Bürgern „öfter unangenehm aufgefallen“, auf rassistische Einstellungen und missbräuchliche staatliche Gewaltanwendung im Dessauer Revier verweisen könnte.
Des weiteren wird die ehemalige Polizeipräsidentin mit großer Wahrscheinlichkeit zum Thema befragt werden, wie sie es als Polizeipräsidentin rechtfertige, dass es schon vor jenem Tag, als Oury Jalloh verbrannte, zu den Praktiken im Polizeirevier gehörte, bei Ingewahrsamnahmen bzw. Freiheitsentzug durch die Polizei keine richterlichen Entscheidungen einzuholen. Immerhin ergaben die jüngsten Gerichtsverhandlungen, dass das Dessauer Revier in den gesamten 10 Jahren von 1994 bis Januar 2005 bei ca. 200 Ingewahrsamnahmen pro Jahr es nicht ein einziges Mal für nötig befunden hatte, einen Richter über die Freiheitsentziehung zu informieren. Dies, obgleich sowohl das sachsen-anhaltinische Landesgesetz für Sicherheit und Ordnung (§ 38) als auch die Strafprozessordnung (§ 163c) ausdrücklich die „unverzügliche“ Einholung einer richterlichen Entscheidung über Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung zwingend vorschreiben. Es handelt sich bei der systematischen Nichtbefolgung dieser Vorschriften sogar um verfassungsrechtliche Verstöße nach Art. 104 Abs. 2 Grundgesetz.
Die Polizeidirektion ist die Aufsichtsbehörde der Reviere. Alle „Bewegungen“ im Revier werden im Gewahrsamsbuch registriert. Seit 1994 findet sich kein Eintrag im Gewahrsamsbuch, dass bei freiheitsentziehenden Maßnahmen ein Richter hinzugezogen worden sei. Selbst im November 2002, als der obdachlose 40-jährige Mirko Bichtemann tot in derselben Zelle Nr. 5 aufgefunden wurde, in der auch Oury Jalloh umkam, wurde kein Richter verständigt!
Diese rechts-, ja verfassungswidrige Polizeipraxis über Jahre hinweg dürfte einer aufsichtführenden Polizeipräsidentin nicht verborgen geblieben sein.
Wäre Oury Jalloh von den beiden Polizeibeamten des Reviers, März und Scheibe, nicht zu Unrecht inhaftiert worden – inzwischen selbst staatsanwaltschaftlich als widerrechtliche Freiheitsentziehung anerkannt – hätte er nicht im Polizeigewahrsam sterben müssen. Wer kann ausschließen, dass jene „unangenehmen Verhaltensweisen der Polizeibeamten im Zusammenhang mit ausländischen Bürgern“ der eigentliche Grund für die Ingewahrsamnahme Oury Jallohs waren?
Wäre Oury Jalloh, seinem körperlichen und alkoholisierten Zustand entsprechend, auf eine Krankenstation verbracht worden, so wäre ihm der Verbrennungstod erspart geblieben. Stattdessen wurde er aufgrund rassistischer Missachtung seiner geschwächten körperlichen Verfassung vom zuständigen Polizeiarzt, Blodau für haftfähig erklärt und von dem, seine Pflichten gegenüber einem hilflosen Menschen fahrlässig verletzenden Dienstgruppenleiter Schubert in eine Zelle gesperrt, wo er zudem, damit er nicht ständig beaufsichtigt zu werden brauchte, an Händen und Füßen fixiert wurde.
Hätte der Dienstgruppenleiter, wie gesetzlich vorgeschrieben, die richterliche Entscheidung eingeholt, wäre Oury Jalloh möglicherweise noch am Leben.
Ein Beleg dafür, dass die Polizeipräsidentin tatsächlich über vieles informiert war, wird durch die Aussage des Revierleiters Kohl bestätigt: Er hat die Vorwürfe, dass das Revier im Umgang mit „Ausländern“ auffällig geworden sei, schriftlich an die Präsidentin weitergeleitet. Diese wollte der Mitteilung in der Aufregung um den Verbrennungstod Oury Jallohs nicht nachgegangen sein und sich zu einem späteren Zeitpunkt darum kümmern. Dieser Zeitpunkt trat nie ein.
Wie hielt und hält es nun die ehemalige Polizeipräsidentin selbst mit rassistischen Verhaltensweisen in den Behörden, die ihr unterstellt sind? Wie hielt und hält es die Polizeidirektion mit der Gewaltenteilung zwischen Gericht und Polizei und mit der richterlichen Kontrolle hinsichtlich schwerwiegender Polizeieingriffe in die Freiheitsrechte? Ist es rechtens, dass im Dessauer Revier die Polizisten selbst richten? War gewaltgestützte polizeiliche Anmaßung in der Polizeidirektion-Ost Gang und Gebe?
Für alle genannten Rechtsverletzungen im Polizeirevier trägt nicht zuletzt auch die Polizeipräsidentin die Verantwortung. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass in der von ihr geleiteten Polizeidirektion die Dienstaufsicht und auch die Kontrolle der Reviere grob und nachhaltig verletzt wurden.
Alles Schlamperei?
Zwei Menschenleben sind ein unvertretbarer Preis für die vielen Ungereimtheiten im Revier und der Polizeidirektion Ost, die sich unter dem ohnehin höchst unwirtlichen Deckmantel „Schlamperei“ auftun.
Zwei Menschenleben müssen – auch im Innen- und Justizministerium Sachsen-Anhalts – zum Anlass genommen werden, endlich für Verhältnisse zu sorgen, die keinen Zweifel daran lassen, dass auch die Polizei von unten nach oben an geltendes Recht gebunden ist.
Die Frage, „wer schützt uns vor dieser Polizei?“ bricht während des gesamten Verfahrens immer wieder auf.
Sie klagt die rechtstaatliche Verfasstheit dieses Landes ein.
Berlin/Köln, 29. Mai 2012
Internationale Liga für Menschenrechte
Komitee für Grundrechte und Demokratie
Initiative in Gedenken an Oury Jalloh e. V.