Die Internationale Liga für Menschenrechte protestiert scharf gegen die unwürdigen Scheingefechte zwischen dem Innensenator Henkel (CDU) und der Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen Kolat (SPD) um den Umgang mit dem „Einigungspapier Oranienplatz“, die auf dem Rücken von Flüchtlingen ausgetragen werden. Seit Monaten mahnt die Liga ebenso wie viele andere Grund- und Menschenrechtsorganisationen, aber auch der Flüchtlings– und Migrationsrat und der RAV die Umsetzung des von der Integrationssenatorin in Vertretung und mit Wissen des Innensenators sowie des gesamten Senats in langwierigen Verhandlungen mit Vertretern der Flüchtlinge ausgehandelten „Einigungspapiers Oranienplatz“ vom 18. März 2014 an. Das Papier kommt einem „Einigungsvertrag“ zwischen beiden Parteien gleich und bestärkte die Hoffnungen der Flüchtlinge auf ein geregeltes Dasein. Die von den Flüchtlingen gemachten Zusagen wurden inzwischen eingelöst (O-Platz und Schule wurden geräumt). Die aufenthaltsrechtlichen Zusagen, die vom Innensenator sowie die Unterstützung des Zugangs zum Arbeitsmarkt, zu Bildungseinrichtungen etc., die vom Hause der Integrationssenatorin umzusetzen waren, wurden demgegenüber nicht erfüllt. Die jüngsten Ereignisse lassen befürchten, dass der Innensenator nun auch bereit ist, Menschenleben zu riskieren, um eine Herren-im-Hause-Politik durchzusetzen, die den Menschen– und humanitären Rechten Hohn spricht. So wurden 108 Anträge der Flüchtlinge auf Umverteilung nach Berlin und Aufenthaltserlaubnis hier nach einem undurchsichtigen Verfahren abschlägig beschieden. Die Flüchtlinge mussten inzwischen die Unterkünfte, in die sie mit dem „Einigungspapier“ gelockt worden waren, wieder räumen. Zurück auf der Straße sind sie kriminalisiert, weil sie der Aufforderung nachzukommen gehalten sind, umgehend in die Bundesländer oder Staaten zurückkehren, in denen sie ursprünglich registriert waren. Manche nach immerhin zwei Jahren „geduldetem“ Aufenthalt in Berlin. Neun der 63 aus dem Hostel in der Gürtelstraße hinausgeworfenen Flüchtlinge harren seit sechs Tagen ohne Strom, Nahrung und bei nur unzureichender Versorgung mit Wasser auf dem Dach des Gebäudes aus, um Obdachlosigkeit, der Vertreibung aus Berlin, drohender Inhaftierung oder gar Abschiebung zu entkommen.
Heute wurde nun ein vom Innensenator in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten publik, das dem Einigungspapier aufgrund eines Formfehlers die Rechtswirksamkeit abspricht. Der Formfehler, heißt es, bestehe darin, dass das Papier nicht vom Innensenator, sondern von der Integrationssenatorin unterschrieben worden sei. Diese sei zwar zu Verhandlungen befugt gewesen, nicht jedoch zur alleinigen Unterzeichnung eines Vertrags, dessen Umsetzung in den Zuständigkeitsbereich auch des Innensenators und der ihm unterstehenden Ausländerbehörde falle.
Liga-Präsidentin Prof. Dr. Fanny-Michaela Reisin: „Dieser Vorgang ist ungeheuerlich. Der Innensenator, die Integrationssenatorin, der Regierende Bürgermeister und mithin der gesamte Senat dürften doch wohl am besten wissen, wer welche Verträge zu unterzeichnen hat, damit sie rechtswirksam werden. Das Problem liegt beim Innensenator! Die Einigung wurde wochenlang in aller Öffentlichkeit diskutiert und in allen Einzelheiten in den Massenmedien behandelt. Im weiteren Verhalten hat auch sein Haus sich ausdrücklich auf das Einigungspapier bezogen, z. B. hinsichtlich der Räumung des Oranienplatzes durch die Flüchtlinge. Es verstößt daher gegen den, auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben, wenn der Innensenator nunmehr das Papier in Ermanglung seiner Unterschrift für ungültig erklärt. Dass der von ihm zu verantwortende Formfehler nicht auf dem Rücken der schutzsuchenden Flüchtlinge und zu deren Nachteil ausgetragen werden darf, steht außer Frage. Wir fordern daher den amtierenden Innensenator Henkel dringend auf, seiner Pflicht nachzukommen und den juristischen Fehler durch eine nachträgliche Unterzeichnung des Einigungspapiers zu korrigieren!“
Die Erfahrungen der vergangenen Monate legen nahe, dass der Innensenator mit Duldung des Regierenden Bürgermeisters und des gesamten Senats sich einer fahrlässigen, wenn nicht gar bewussten Täuschung der Flüchtlinge und der Berliner Öffentlichkeit schuldig gemacht hat. Der „Einigungsvertrag“ liegt vor. Die zugesagte „umfassende Prüfung der Einzelfallverfahren im Rahmen aller rechtlichen Möglichkeiten“ bei „Beantragung einer Aufenthaltsgenehmigung oder einer Umverteilung“ nach Berlin erfolgte für keinen der Flüchtlinge in der gebotenen Gründlichkeit. Kein einziger Antrag wurde bisher positiv beschieden. Die Abschiebeverfahren wurden nicht für die Dauer der Prüfung ausgesetzt. Desgleichen fanden sich die Flüchtlinge, entgegen der Zusagen der Integrationssenatorin keineswegs hinreichend unterstützt, ihre „Kernanliegen“ eines „verbesserten Zugangs zum Arbeitsmarkt“ sowie der „Abschaffung der Residenzpflicht“ zu verwirklichen. Von einer förderlichen Begleitung bei der „Entwicklung ihrer beruflichen Perspektive“ wozu laut „Einigungsvertrag“ der „Zugang zu Deutschkursen, die Anerkennung ihrer beruflichen Kompetenzen sowie Beratungen zur beruflichen Entwicklung, Berufsausbildung“ oder zum Studium gehören sollten, konnte im vergangenen Halbjahr keine Rede sein. Die Flüchtlinge verbrachten Tag um Tag in den Heimen mit nervenzermürbenden Warten, dass die Zusagen endlich eingelöst würden.
Das Vertrauen, das die Flüchtlinge und ihre deutschen Unterstützer der Redlichkeit der Vertragspartner des Senats entgegenbrachten, wurde mutwillig zerstört. Wortbruch auf der ganzen Linie! Unwürdiges Spiel mit der Würde des Menschen und mehr noch allem Anschein nach auch mit Menschenleben.
Die Liga appelliert an die regierenden Parteien von dieser unmenschlichen Politik abzukehren. Die neun Flüchtlinge auf dem Dach des Hostels in der Gürtelstraße sind selbstmordgefährdet. Der Preis weiterer Todesfälle ist zu hoch, damit auch Berlin zu einer humanen Flüchtlingspolitik gelangt! Der Senat hat die Möglichkeit, allen hier lebenden Menschen wenigstens das redliche Bemühen um die Verwirklichung ihrer universellen, jedem Menschen überall auf dem Globus zustehenden Grund– und Menschenrechte entgegenzubringen.
Bezogen auf die als Partner des „Einigungsvertrags“ aufgeführten Flüchtlinge, fordert die Liga:
- Umgehende Aussetzung aller und insbesondere auch der abschlägigen Verfahren
- Humanitäre Duldung bis zum rechtskräftigen Abschluss einer tatsächlich umfassenden Prüfung der eingereichten Einzelanträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bei
- gleichzeitiger Aussetzung bestehender Abschiebeverfahren für die Dauer der Antragsprüfung
- Ausschöpfung aller Optionen und Ermessensspielräume, die das Aufenthaltsgesetz bietet, den Aufenthalt in Deutschland zugunsten der betroffenen Antragssteller zu regeln.
Überdies fordert die Liga seit langem:
- Aufhebung der Residenzpflicht bundesweit
- Unterbringung aller Flüchtlinge und Asylbegehrenden in Wohnungen und nicht in Sammelunterkünften
- umgehender Zugang zu Deutschkursen, Arbeitsmarkt und Bildungseinrichtungen
- Einsatz Bundesregierung für die umgehende Änderung des Europäischen Flüchtlings- und Asylrechts, besonders Dublin III sowie für die Entwicklung menschenrechtskonformer Verträge und Gesetze, die dem Massensterben von Flüchtlingen sowie den massiven Verletzungen ihrer international verbürgten Rechte auf den Fluchtwegen ein Ende setzen.
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