Zehn Jahre nach dem „Sommer der Migration“ sind die Fragen, die damals die gesellschaftliche Debatte bestimmten, aktueller denn je. Inzwischen hat sich die politische Landschaft tiefgreifend verschoben: Migration wurde zum zentralen Thema stilisiert, das Polarisierung befeuert und den gesellschaftlichen Diskurs nach rechts verschiebt – angetrieben vor allem durch rechtspopulistische und konservative Akteure. Mit dem Satz „Wir schaffen das“ eröffnete Angela Merkel 2015 einen kurzen Moment der Offenheit, der vielen ein neues Verständnis von internationaler Solidarität versprach. Der Begriff Willkommenskultur schien für eine kurze Zeit mit Leben gefüllt zu sein. Heute, zehn Jahre später, ist dieser Optimismus enttäuscht. An seine Stelle ist eine Politik getreten, die auf Abschottung, Entrechtung und systematische Menschenrechtsverletzungen setzt. Die Folgen dieser Politik sind tödlich: Seit 2014 sind mehr als 28.000 Menschen auf der Flucht im Mittelmeer gestorben.
I. Migration als soziale Realität
Fluchtmigration ist eine historische und globale Realität. Laut UNHCR befanden sich Ende 2024 weltweit 123,2 Millionen Menschen auf der Flucht, so viele wie nie zuvor (UNHCR Global Trends 2024). Menschen verlassen ihre Heimat nicht aus freien Stücken, sondern weil sie müssen: weil ihr Zuhause zerstört wurde, weil sie vor Gewalt fliehen oder weil ihre Lebensgrundlagen durch Armut und Klimakrise zerstört sind. Die oft beschworenen „Pull-Faktoren“ wie Sozialleistungen in Deutschland sind nichts weiter als politische Nebelkerzen. Wer mit seinen Kindern in ein überfülltes Schlauchboot steigt, dessen Heimat ist längst kein Ort zum Leben mehr.
Die Ursachen von Flucht wie Krieg, Hunger, Umweltzerstörung und autoritäre Regime, sind eng mit kolonialen Hinterlassenschaften, ungleichen globalen Wirtschaftsbeziehungen und geopolitischen Interessen verknüpft, die auch Europa und Deutschland bis heute aktiv mitprägen. Migration ist daher keine „Krise von außen“, sondern Ausdruck globaler Ungerechtigkeit. Eine Politik, die sich an menschenrechtlichen Prinzipien orientiert, müsste diese Zusammenhänge anerkennen und daraus Verantwortung ableiten. Fluchtmigration lässt sich nicht durch Mauern, Pushbacks oder Lager verhindern, solche Maßnahmen machen sie nur tödlicher.
II. 2015: Ein kurzer Moment von Offenheit und Solidarität
Der sogenannte „Flüchtlingssommer“ 2015 war ein historischer Ausnahmezustand. Innerhalb weniger Monate erreichten hunderttausende Menschen Deutschland. Die Bilder von ankommenden Geflüchteten, die an Bahnhöfen mit Applaus empfangen wurden, gingen um die Welt. In vielen Städten öffneten Bürger*innen Turnhallen, Wohnungen, Vereine und Kirchen, um spontan Unterkünfte und Versorgung zu organisieren. Ein zivilgesellschaftlicher Aufbruch setzte ein, der von einer breiten Bereitschaft getragen war, Geflüchtete nicht nur aufzunehmen, sondern ihnen auch ein Ankommen in Würde zu ermöglichen.
Dieser Prozess war keineswegs ohne Schwierigkeiten: Die staatlichen Strukturen waren vielfach überfordert, Unterbringung in Massenunterkünften führte zu Isolation, viele Menschen litten unter schweren Traumata, für die es an ausreichender Versorgung mangelte. Doch trotz aller Probleme zeigte sich für einen kurzen Augenblick ein anderes gesellschaftliches Gesicht: das einer Gesellschaft, die Solidarität lebt. Sprachcafés, Patenschaftsprojekte, Moscheegemeinden, lokale Initiativen – sie alle schufen Räume, die eine Teilhabe über das rein Administrative hinaus ermöglichten. Für viele Geflüchtete war dies der erste Kontakt mit einer Gesellschaft, die ihnen nicht nur mit Misstrauen begegnete. Integration wurde nicht nur als Bringschuld von Migrant*innen betrachtet, sondern als gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Aus menschenrechtlicher Perspektive war dies ein wichtiger Beweis: Eine offene, solidarische und menschenwürdige Migrationspolitik ist von Seiten der Zivilgesellschaft möglich. Doch die Chance, diese Erfahrung in strukturelle Veränderungen zu überführen, wurde politisch vertan.
III. Zehn Jahre später: Politische Verschärfung und gesellschaftliche Ernüchterung
Heute, zehn Jahre später, dominiert eine Politik, die das Gegenteil von 2015 verkörpert. Die Aufnahme von Geflüchteten wird nicht mehr als Ausdruck internationaler Verantwortung verstanden, sondern zunehmend als „Belastung“ und immer häufiger als „Gefahr“ inszeniert. Statt Schutzrechte zu wahren, wurden seit 2015 systematisch gesetzliche Hürden aufgebaut: Die Asylpakete I und II schränkten Rechte massiv ein, die Liste sogenannter sicherer Herkunftsstaaten wurde stetig ausgeweitet und ist heute ein zentrales Instrument faktischer Abschottung. Mit dem „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ von 2019 wurden Bleiberechte eingeschränkt und das „Rückführungsverbesserungsgesetz“ von 2023 verschärfte die Abschiebehaft erheblich. Der im vergangenen Jahr beschlossene EU-Migrationspakt etabliert Grenzverfahren, die Asylgesuche bereits an den Außengrenzen abweisen sollen, und verlagert Verantwortung auf Drittstaaten, in denen elementare Menschenrechte nicht gewährleistet sind. Die aktuelle Bundesregierung unter Friedrich Merz hat zudem den Familiennachzug, einen der wenigen verbliebenen legalen Fluchtwege, massiv eingeschränkt, weist Asylsuchende an Grenzen zurück und trägt so zur faktischen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl bei. Die Entwicklung zeigt klar: Migration wird Schritt für Schritt eingeschränkt, während sich ein zunehmend repressives Grenzregime etabliert.
Parallel dazu hat sich die gesellschaftliche Stimmung verschärft. Allein im Jahr 2023 registrierte das Bundeskriminalamt über 2.300 Angriffe auf Geflüchtete und Unterkünfte (infomigrants 2025); ein Ausdruck der Normalisierung von Rassismus. Auch die Sprache in Medien und Politik hat sich verschoben, wo 2015 von „Willkommenskultur“ die Rede war, dominieren heute Begriffe wie „Belastungsgrenzen“ und „Sicherheitsfragen“.
Ein zentrales Element dieser Verschiebung ist das rassifizierende Sicherheitsnarrativ. Straftaten von migrantisierten Menschen werden überproportional betont, während Straftaten von weißen Deutschen meist nicht mit ihrer Herkunft verknüpft werden. Begriffe wie „Ausländerkriminalität“ werden gezielt genutzt, führende Politiker wie Markus Söder bezeichnen Geflüchtete pauschal als „Gefährder“ (Rede Marcus Söder 2025) und normalisieren so rechtspopulistische Feindbilder. Konservative und rechte Parteien stellen regelmäßig einen direkten Zusammenhang zwischen Einwanderung und Kriminalität her, fordern nach spektakulären Einzelfällen Gesetzesverschärfungen und verstärken so das Bild von Migration als Gefahr. Auf europäischer Ebene haben Politiker*innen wie Viktor Orbán Migration als „trojanisches Pferd“ für Terrorismus bezeichnet, und auch die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, stellte mit dem Ressorttitel „Protecting our European Way of Life“ Migration in einen Bedrohungskontext (Leonard & Kaunert 2021, p.1).
So geht die politische Verschärfung einher mit einem gesellschaftlichen Klima, in dem rassistische Narrative immer weiter in die Mitte vordringen. Migration wird nicht als soziale Realität anerkannt, sondern zunehmend als Sicherheitsproblem konstruiert und so als Legitimation für repressive Politik genutzt.
IV. Systematische Menschenrechtsverletzungen
Die menschenrechtliche Bilanz dieser Entwicklungen ist verheerend. Grundlegende Rechte, die in internationalen Konventionen und nationalen Gesetzen garantiert sind, werden in der Praxis verletzt oder ausgehöhlt: Das Recht auf Asyl (Art. 14 AEMR) ist faktisch entkernt, das Verbot unmenschlicher Behandlung (Art. 3 EMRK) wird durch Pushbacks und inhumane Lagerbedingungen verletzt, das Recht auf Privatleben (Art. 8 EMRK) durch Sammelunterkünfte und Residenzpflicht eingeschränkt. Besonders gravierend ist die Situation von Kindern, deren Grundrechte, etwa auf Bildung, Familie und Schutz, systematisch verletzt werden.
Statt diese Schutzrechte zu stärken, setzt die EU auf Externalisierung: mit Lagern in Libyen, dem Türkei-Deal oder Abkommen mit Staaten, in denen elementare Menschenrechte nicht garantiert sind. Deutschland ist an dieser Politik aktiv finanziell und politisch beteiligt. Die Menschenrechtsverletzungen werden nicht nur in Kauf genommen sondern sind inhärenter Teil dieses europäischen Grenzregimes. Hinzu kommt die massive Aufrüstung der Grenzagentur Frontex, deren Budget im Finanzrahmen 2021–2027 über 5,6 Milliarden Euro beträgt (statewatch 2022)
V. Solidarische Alternativen
Trotz der zunehmenden Entrechtung von Menschen auf der Flucht gibt es zahlreiche Gegenbewegungen, die zeigen, dass eine andere Politik möglich ist. Kommunen spielen dabei eine zentrale Rolle: Europaweit haben sich Städte zu Solidarity Cities erklärt, während in Deutschland inzwischen mehr als 300 Städte und Gemeinden im Bündnis SeeBrückezusammengeschlossen sind. Sie fordern, dass Kommunen selbst über Aufnahmeprogramme entscheiden können, und machen damit deutlich, dass Solidarität vor Ort längst praktiziert wird – auch gegen den Widerstand der Bundesregierung.
Ebenso unverzichtbar sind selbstorganisierte Initiativen von Menschen mit Fluchterfahrung. Gruppen wie The Voice Refugee Forum, Jugendliche ohne Grenzen oder Women in Exile zeigen seit Jahren, dass Geflüchtete nicht nur Betroffene, sondern selbst politische Akteur*innen sind. Sie prangern Entrechtung und Diskriminierung an, fordern Bleiberecht und Teilhabe und bringen so ihre Perspektiven in die gesellschaftliche Debatte ein.
Im Mittelmeer zeigt die zivilgesellschaftliche Seenotrettung, dass Menschlichkeit auch dort möglich bleibt, wo staatliche Akteure versagen. Organisationen wie Sea-Watch oder SOS Méditerranée retten seit Jahren Menschenleben auf der tödlichsten Fluchtroute der Welt, und das, obwohl ihre Arbeit zunehmend kriminalisiert wird, Schiffe immer wieder festgesetzt und sogar angegriffen werden. Diese Praxis, die im Kern nichts anderes ist als die Durchsetzung fundamentaler Menschenrechte, macht sichtbar, wie weit sich europäische Politik von ihren eigentlichen Verpflichtung entfernt hat.
Juristische Organisationen wie das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) dokumentieren parallel systematische Menschenrechtsverletzungen an den europäischen Außengrenzen und klagen sie vor nationalen und internationalen Gerichten an. Damit halten sie die Frage von Recht und Gerechtigkeit in einer politischen Debatte präsent, die sich sonst größtenteils auf Abschottung und Sicherheitsdiskurse beschränkt.
Über diese Beispiele hinaus gibt es konkrete politische Alternativen, die sich längst umsetzen ließen. Notwendig sind sichere und legale Fluchtwege, damit Menschen nicht länger gezwungen werden, ihr Leben in Schlauchbooten zu riskieren. Es braucht sichere Aufenthaltstitel statt jahrelanger Unsicherheit und Duldung, schnelle Zugänge zu Bildung und Arbeit statt Isolation in Sammelunterkünften, und das uneingeschränkte Recht auf Bewegungsfreiheit als zentrales Menschenrecht. Dass eine solche Politik nicht nur möglich, sondern erfolgreich sein kann, zeigt etwa Portugal, wo Geflüchtete bereits kurz nach ihrer Ankunft Zugang zum Arbeitsmarkt und gesellschaftlicher Teilhabe erhalten.
2015 wurde sichtbar, dass Aufnahme und Unterstützung in großem Umfang möglich sind – trotz aller Schwierigkeiten. Heute zeigen Kommunen, Selbstorganisationen und zivilgesellschaftliche Initiativen weltweit, wie Integration durch schnellen Zugang zu Arbeit, Bildung und Wohnen sowie durch sichere Aufenthaltsstatus praktisch gelingen kann. Was damals an Solidarität möglich war und was heute an guten Ansätzen existiert, muss in verbindliche Politik überführt werden – mit sicheren und legalen Fluchtwegen, garantierten Rechten und echter gesellschaftlicher Teilhabe.
VI. Fazit
Zehn Jahre nach dem Sommer der Migration zeigt sich klar; Die damalige Offenheit war kein Beginn struktureller Veränderung, sondern eine Ausnahme. Was damals Hoffnung auf Solidarität und ein anderes Verständnis von Migration weckte, ist heute einer Politik gewichen, die Abschottung, Entrechtung und systematische Menschenrechtsverletzungen zur Normalität gemacht hat. Doch zugleich existieren bis heute Orte und Initiativen, die zeigen, dass es Alternativen gibt – in Städten, in der Zivilgesellschaft, in der Selbstorganisation von Geflüchteten.
Die aktuelle Debatte über Migration reduziert diese meist auf ein Sicherheitsrisiko. Damit werden Ursachen wie Krieg, Armut, Klimakrise und die Folgen kolonialer Ausbeutung ebenso ausgeblendet wie die Menschenrechte der Betroffenen. Migration ist aber Teil gesellschaftlicher Entwicklung und muss politisch auch als solche anerkannt werden. Es geht nicht um die Frage, ob Menschen Schutz suchen, sondern darum, wie Aufnahme, Teilhabe und Gerechtigkeit garantiert werden können.
Statt Migration als Gefahr zu konstruieren, gilt es sie als Teil sozialer Realität anzuerkennen und daraus eine Politik zu entwickeln, die sich an Gerechtigkeit, Gleichheit und Menschenrechten orientiert.
Quellen:
- Infomigrants 2025: Germany: Number of attacks on asylum accommodation increased in 2024. https://www.infomigrants.net/en/post/62608/germany-number-of-attacks-on-asylum-accommodation-increased-in-2024
- Léonard, S., & Kaunert, C. (2021): De-centring the securitisation of asylum and migration in the European Union: Securitisation, vulnerability, and the role of Turkey. Geopolitics, 27(3), 729–751. https://doi.org/10.1080/14650045.2021.1929183
- Statewatch 2022: At what cost? Funding the EU’s security, defence and border policies 2021–2027. https://www.statewatch.org/publications/reports-and-books/at-what-cost-funding-the-eu-s-security-defence-and-border-policies-2021-2027/
- Rede Markus Söder (2025): Politischer Aschermittwoch der CSU. ARD Mediathek / Phoenix. https://www.ardmediathek.de/video/phoenix-vor-ort/politischer-aschermittwoch-csu/phoenix/Y3JpZDovL3Bob2VuaXguZGUvNDMzODc2Nw