Internationale Liga für Menschenrechte

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Offener Brief zum Prozess gegen Sonja Suder und Christian Gauger

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Grund- und Menschenrechte verpflichten Gericht zu fairem Verfahren!

Sehr geehrte Frau Vorsitzende Richterin,

die Internationale Liga für Menschenrechte verfolgt mit großer Aufmerksamkeit das Gerichtsverfahren gegen Sonja Suder und Christian Gauger, dem Sie seit Beginn, am 21. September des vergangenen Jahres, richterlich vorsitzen. Die Angeklagten werden beschuldigt, an mehreren Anschlägen der ›Revolutionären Zellen‹ (RZ) während der 1970er Jahre beteiligt gewesen zu sein.  Sonja Suder wird darüber hinaus vorgeworfen, für den Überfall auf die OPEC-Konferenz in Wien logistische Unterstützung geleistet zu haben.

Im Mittelpunkt unseres Interesses steht die Frage nach der Einführung und der Gerichtsverwertbarkeit der Aussagen sowohl des Zeugen Hans-Joachim Klein als auch und vor allem des Zeugen Hermann Feiling. Beide haben die Angeklagten in früheren Vernehmungen belastet. Hinsichtlich des Zustandekommens der früheren Aussagen, ihrer Glaubhaftigkeit und der Glaubwürdigkeit beider Zeugen sind erhebliche Zweifel angezeigt, die wesentlich den von Polizei und Justiz hergestellten Vernehmungskonstellationen zuzuschreiben sind.

Soweit uns bekannt, wird von niemandem bestritten, auch nicht von der Richterschaft in dem Verfahren gegen Sonja Suder und Christian Gauger unter Ihrem Vorsitz, dass die Vernehmung des Zeugen Hermann Feiling zu einem Zeitpunkt erfolgte, als dieser in höchster Lebensgefahr schwebte und unter schwerem Schock stand.

Am 23. Juni 1978 war ein Sprengsatz auf seinem Schoß explodiert, was nicht zu seinem Tod, jedoch unmittelbar danach, zur Amputation beider Beine bis zum oberen Drittel, zur Entfernung beider Augäpfel und zur Intensivversorgung der schweren Brandwunden auf dem ganzen Körper führte. Der Presse entnehmen wir, dass Hermann Feiling bereits einen Tag nach den Operationen für vernehmungsfähig erklärt und tatsächlich auch einer Befragung durch den polizeilichen Staatsschutz ausgesetzt wurde. Insgesamt sei er, auch das wird nicht bestritten, „viereinhalb Monate in dieser Lage der absoluten Hilflosigkeit, der Schmerzen, der eingeschränkten Wahrnehmungsfähigkeit, der säuglingshaften Abhängigkeit, ferngehalten von allen Freunden, ferngehalten von jedem Anwalt seiner Wahl“ gewesen. Die Befragungen des polizeilichen Staatsschutzes wurden systematisch protokolliert. Eben diese Protokolle sollen in dem Verfahren zur Belastung von Sonja Suder und Christian Gauger herangezogen werden.

Allein die Tatsache, dass der Zeuge unmittelbar nach den Operationen vom Arzt für vernehmungsfähig erklärt und von Polizeibeamten des Staatsschutzes einer Befragung unterzogen wurde, muss als ungeheuerlicher Verstoß gegen alle humanitären Gebote sowie menschenrechtliche Mindeststandards (Folterverbot) beurteilt werden. Eingeleitet von einem Staatsanwalt – den Hermann Feiling für einen Rechtsanwalt hielt – erfolgte die mehrmonatige Vernehmung des Zeugen unter Bedingungen, die einer polizeilichen Isolationshaft gleichkamen. Dies obwohl zu keinem Zeitpunkt ein Haftbefehl gegen Hermann Feiling verkündet worden war und obgleich die Polizei zur ungebührlich langen Inhaftierung ohne richterlichen Entscheid nicht befugt ist. Schon diese Tatbestände müssen als schwere Verstöße gegen geltendes Recht sowie gegen grundlegende Menschenrechte gewertet werden, etwa gegen den Art. 8 und Art. 9 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie ebenso gegen Art. 7 und Art. 10 des Zivilpakts, insbesondere das absolute Folterverbot des Artikel 3 EMRK, das ausdrücklich auch „unmenschliche und erniedrigende Behandlung“ verbietet.

Dass nun die protokollierten Aussagen des Zeugen Feiling – insgesamt 1300 Protokollseiten – umstandslos als Belastungsmaterial gegen die Angeklagte, Sonja Suder herangezogen werden sollen, ist daher inakzeptabel. Laut Art. 11 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und Art. 7 des Zivilpakts hat jeder Menschen „bei einer gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Beschuldigung in voller Gleichheit den Anspruch auf ein gerechtes und öffentliches Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht„.

 

Bei aller Achtung und Wertschätzung der Unabhängigkeit und Souveränität des Gerichts, das Verfahren eigenständig zu gestalten, stellen sich bei eingehender Beobachtung des Prozesses die folgenden Fragen:

  • Wie will das Gericht den Eindruck vermeiden, das absolut geltende Folterverbot zu umgehen, um mit derartigen „Belastungen“ die Angeklagte verurteilen zu können?
  • Wie will das Gericht ein faires Verfahren gewährleisten, wenn Beweismaterial herangezogen werden soll, das einer unmenschlichen und erniedrigenden Vernehmungskonstellation entstammt, bei der die „Aussagefreiheit“ des Zeugen laut Expertengutachten höchst beeinträchtigt war?
  • Wie wollen Sie, sehr geehrte Vorsitzende, den Eindruck vermeiden, Sie belasteten die Angeklagten auf der Basis von „Protokollen“ und Befunden polizeilicher „Befragungen“, die jeder öffentlichen Kontrolle entzogen, im Zweifel gewaltsam erzwungen worden sein könnten? Und wie wollen Sie ausschließen, dass die Aussagen vom polizeilichen Staatsschutz erzwungen wurden?

Artikel 11 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte spricht jedem, der wegen einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, das Recht zu, „als unschuldig zu gelten, solange seine Schuld nicht in einem öffentlichen Verfahren, in dem er alle für seine Verteidigung notwendigen Garantien gehabt hat, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.“ Hier steht das Gericht – nicht zuletzt auf Grund seiner strafrechtlichen Gebundenheit sowie der grundgesetzlich verbrieften Zivil- und Menschenrechte in der Pflicht. Zu den für ihre Verteidigung notwendigen Garantien, gehörte die Bestellung eines oder mehrerer Gutachter, die nach den neuesten medizinischen Kenntnissen – insbesondere der damals noch nicht etablierten Traumaforschung – beurteilen, ob Hermann Feiling damals überhaupt in der Lage war, in freier Willensentscheidung Angaben zu machen.

Zu den notwendigen Garantien, die den Angeklagten für ihre Verteidigung zustehen, gehörte überdies auch die Überprüfung der belastenden Aussagen des Zeugen Hans-Joachim Klein. Herr Klein – selber direkt an dem OPEC-Überfall beteiligt – sagte, um unter die Kronzeugenregelung zu gelangen, freimütig in unterschiedlichsten, sich wechselseitig widersprechenden Versionen über andere Personen aus, zu denen er befragt worden war. Die Rolle des Kronzeugen führt zu einem „Handel mit dem Mörder“, der sich Straffreiheit oder –milderung gegen belastende Aussagen erkauft. Sie wird von einem maßgeblichen Teil der Juristen und Juristinnen in Deutschland nach wie vor als „Fremdkörper“ im rechtsstaatlichen Strafprozess abgelehnt. Hinzu kommt vorliegend:  In anderen Verfahren begegnete die Richterschaft der Glaubwürdigkeit der Aussagen dieser Zeugen mit Skepsis und wies sie unter Bezug auf sein nachlassendes Erinnerungsvermögen zurück.

 

Vor diesem Hintergrund aber auch wegen der, mit inzwischen 35 Jahren, überaus langen Zeit, die seit dem Anschlag vergangen ist, auf den die Anklage  gegen Sonja Suder Bezug nimmt, muss vom Gericht alles getan werden, um das Recht der Angeklagten auf ein gerechtes Verfahren vor einem unparteiischen Gericht zu erfüllen und alle für ihre Verteidigung notwenigen Garantien einzuhalten.

 

Die Zweifel an der Verwertbarkeit der damaligen Angaben von Herrn Feiling sind so schwerwiegend, dass wir dringend an Sie, sehr geehrte Vorsitzende, appellieren, nun die Sachverständigen zu bestellen, die befähigt sind, die Tragfähigkeit des Beweismaterials auf das sich die Anklagen sowie – nach Lage der Dinge – auch die Urteilsfindung stützen, rückhaltlos zu prüfen und begründet zu bestätigen oder abzuweisen.

In Erwartung Ihrer geschätzten Antwort verbleibe ich

 

Mit besten Grüßen

 

 

Fanny-Michaela Reisin (Präsidentin)

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