Rolf Gössner unterzieht die bundesdeutsche Institution des „Verfassungsschutzes“ einer fundamentalen Kritik. Am Beispiel des V-Leute-Systems in Naziszenen macht er deutlich, wie es zu einer Symbiose von Verfassungsschützern und -feinden kommen konnte. Am Ende stehen Vorschläge für eine grundsätzliche Reform des Inlandsgeheimdienstes.
Die NSU-Mordserie und ihre ursprüngliche Nichtaufklärung durch staatliche Sicherheitsorgane haben die Bundesrepublik bis heute nachhaltig erschüttert. Die Verbrechen der Nazi-Terrorgruppe NSU, denen zehn Morde und Raubüberfälle zur Last gelegt werden, haben die extreme Gefahr durch rechtsextreme Gewalt endlich in den gesellschaftlichen Fokus gerückt – was allerdings immer wieder in Vergessenheit zu geraten droht.
Mehrere parlamentarische Untersuchungsausschüsse haben sich – gegen viele Widerstände – recht verdienstvoll um Aufklärung bemüht, wenn auch zentrale Fragen bis heute offengeblieben sind. Über fünf Jahre lang mühte sich das Oberlandesgericht München um strafrechtliche Aufklärung und Ahndung. Für Kenner des Milieus war schon frühzeitig abzusehen, dass sich die Mitglieder der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse, aber auch Gerichte an dem Verdunkelungssystem vor allem des Inlandsgeheimdienstes „Verfassungsschutz“ die Zähne ausbeißen würden. Und genau so ist es gekommen.
Die „Verfassungsschutz“-Behörden des Bundes und der Länder…
… sind Institutionen, die offen oder verdeckt Informationen u. a. über Bestrebungen gegen die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ sammeln und auswerten. Als „Frühwarnsysteme“ sollen sie Regierungen und Parlamente über verfassungsfeindliche Bestrebungen frühzeitig informieren, in gewissem Maße auch Polizei und Öffentlichkeit.
Das hört sich zunächst ganz sinnvoll an – doch strenggenommen trägt der „Verfassungsschutz“ (VS) einen irreführenden Tarnnamen, hinter dem skandalgeneigte Inlands- und Regierungsgeheimdienste des Bundes und der Länder stecken, ausgestattet mit geheimen Mitteln, Methoden und Strukturen, die gemeinhin als „anrüchig“ gelten: Der VS hat die gesetzliche Befugnis, geheime Informanten, V-Leute und verdeckte Ermittler einzusetzen sowie technische Hilfsmittel für Observationen, Lausch- und Spähangriffe.
Damit hat der jahrzehntelang stark ideologisch-antikommunistisch geprägte VS die Lizenz zur Manipulation und Desinformation sowie zur heimlichen Gesinnungsüberprüfung, Infiltration und Ausforschung politisch verdächtiger Gruppen und Parteien, aber auch von Individuen – und zwar weit im Vorfeld eines möglichen Straftatverdachts oder einer messbaren Gefahr. Diese geheimen Mittel, Methoden und Strukturen entziehen sich weitgehend wirksamer rechtsstaatlich-demokratischer Kontrolle. Zugespitzt formuliert: Hier endet der demokratische Sektor – und genau das ist der Kern allen Übels. Was dies für Folgen hat, davon handelt dieser Beitrag. (…)
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Dr. Rolf Gössner, Neonazis im Dienst des Staates, in: INDES 4/2019
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