Junge-Welt-Interview: Markus Bernhardt (https://www.jungewelt.de/2016/12-03/013.php)
Die Internationale Liga für Menschenrechte e.V. (ILM) verleiht in diesem Jahr die Carl-von-Ossietzky-Medaillen 2016 an den Verein SOS Méditerranée e.V., eine zivile Organisation zur Rettung Schiffbrüchiger im Mittelmeer, und an den Dokumentarfotografen Kai Wiedenhöfer (Berlin). Beide Preisträger sollen »für ihre Zivilcourage und ihren tatkräftigen Einsatz für die Verwirklichung der Menschenrechte sowie für die Aufklärung über Ursachen von Flucht und Migration« gewürdigt werden, wie die ILM bekannt gab.
Die Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille geht traditionellerweise einher mit menschenrechtlichen Beiträgen und Interventionen von Experten und Aktivisten. In diesem Jahr werden die Themen Krieg, Terror, Flucht sowie Abschottungspolitik die Preisverleihung thematisch dominieren. So wird Percy MacLean, ehemaliger Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht und Gründungsdirektor des Deutschen Instituts für Menschenrechte, die Einführungsrede zum Thema »Rechte verletzt und Menschenwürde angetastet« halten und Einblicke in den »bürokratischen Umgang mit Geflüchteten vor Krieg und Verfolgung« liefern. Kapitän Stefan Schmidt, Flüchtlingsbeauftragter des Landes Schleswig-Holstein und ebenfalls Medaillenträger, wird die Laudatio auf SOS Méditerranée halten. Als Kapitän der Cap Anamur rettete er 2004 selbst 37 Personen auf ihrem Fluchtweg von Afrika nach Europa im Mittelmeer. Für diese Lebensrettung war Schmidt vor einem italienischen Gericht wegen »Schleusung« bzw. »Beihilfe zur illegalen Einreise« angeklagt. Die Antwortrede für SOS Méditerranée e.V. wird dessen Gründer und Präsident, Kapitän Dr. Klaus Vogel, halten.
Der Verleger Gerhard Steidl, Inhaber des gleichnamigen Verlags in Göttingen, wird die Laudatio auf den Dokumentarfotografen Kai Wiedenhöfer halten, mit dessen aufklärerischem Werk er sich auseinandersetzte und das er auch verlegt hat – so etwa seine beeindruckenden Fotos von Grenz- und Separationsmauern weltweit sowie vom Krieg in Syrien und von dessen Opfern.
Die Verleihungsfeier findet erstmals in der Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin-Kreuzberg statt, die sich in der Obdachlosen-, Armen- und Flüchtlingshilfe engagiert und in deren Räumen zahlreiche Veranstaltungen zu Menschenrechtsthemen stattfinden. (bern)
jW: Am 4. Dezember verleiht die Internationale Liga für Menschenrechte in Berlin die Carl-von-Ossietzky-Medaille an SOS Méditerranée e.V. und den Dokumentarfotografen Kai Wiedenhöfer. Warum ist Ihre Wahl auf diese beiden Preisträger gefallen?
Rolf Gössner: Wir zeichnen SOS Méditerranée und Kai Wiedenhöfer für ihre Zivilcourage und ihren tatkräftigen Einsatz für die Verwirklichung der Menschenrechte aus. Beide lenken den Blick der Öffentlichkeit auf die verzweifelte Lage von Geflüchteten, auf die tragischen Folgen der Flucht- und Migrationspolitik sowie auf Fluchtursachen.
Der Dokumentarfotograf Kai Wiedenhöfer macht mit seinen Fotozyklen das menschliche Leid in Krisen- und Kriegsgebieten der Welt erfahrbar. Sein fotografisch-künstlerisches Werk ist ein aufklärerisches Dokument über grausame Menschenrechtsverletzungen. Er zeigt Menschen in Armut und Elend, die ansonsten allzu oft aus dem Blickfeld der wohlhabenden Gesellschaften geraten.
SOS Méditerranée hat mit dramatischen Rettungseinsätzen seit Februar 2016 etwa 5.000 Flüchtenden das Leben gerettet. Damit setzt diese zivile Organisation ein humanitäres Zeichen gegen die todbringende Abschottungspolitik der EU, der seit 2010 fast 30.000 Menschen zum Opfer fielen.
Also will die Liga damit ein Zeichen für Solidarität mit Geflüchteten setzen sowie gegen Abschottung und Ausgrenzung?
So lässt sich das zusammenfassen. Tatsächlich geht es um eine der ganz großen Herausforderungen unserer Zeit: um die starken Fluchtbewegungen heraus aus Verfolgung, Krieg und Terror, Klimakatastrophen und Armut – also aus menschenunwürdigen Widrigkeiten, an denen der Westen, an denen Europa Mitverantwortung trägt, ohne dieser bislang gerecht geworden zu sein. Im Gegenteil: EU und EU-Staaten, vorneweg die Bundesrepublik, verschärfen die Fluchtbedingungen durch eine unverantwortliche Abschottungspolitik, die zu Tod und Verzweiflung führt, jedenfalls nicht zu einer humanen Bewältigung der existentiellen Probleme. Vor diesem Hintergrund bekommen Willkommenskultur und westliche Werte einen mehr als bitteren Beigeschmack.
Tatsächlich setzt die Bundesregierung angesichts der »Flüchtlingskrise« auf verstärkte Grenzsicherung Europas. Zugleich hat Kanzlerin Angela Merkel die Parole »Wir schaffen das« ausgegeben. Wie passt das zusammen?
Typische Doppelstrategie. Das klingt nicht nur widersprüchlich, das ist es auch – und zugleich zynisch. Angesichts der zu Hunderttausenden zu uns geflüchteten Menschen ist viel von »Willkommenskultur« die Rede, die auch in weiten Teilen der Republik anzutreffen ist und die die Betroffenen zu schätzen wissen. Doch die zivilgesellschaftliche Unterstützungsarbeit wird zunehmend begleitet und konterkariert von einem verschärften Ausländer- und Asylrecht nach dem Motto: Grenzen dicht, sichere Herkunftsländer küren, massenhaft schneller abschieben. Andererseits wird sie auch konterkariert von alltäglicher rassistischer Hetze, Ausgrenzung und Gewalt.
Diese bedenkliche Entwicklung scheint aber gegenüber der »islamistischen Terrorgefahr« mehr und mehr in den Hintergrund zu rücken.
Menschen, die Verfolgung, Krieg, Terror und Tod mühsam entronnen sind, werden hierzulande nicht nur willkommen geheißen, sondern stoßen auch auf Ängste, Abwehr und Feindschaft und geraten damit wieder in Gefahr. Eine besorgniserregende Entwicklung, die angesichts der medienwirksamen und angstbesetzten »islamistischen Terrorgefahr« tatsächlich immer mehr aus dem öffentlichen Blick gerät. Doch Brandanschläge auf Flüchtlingsheime sowie rassistische Übergriffe auf Geflüchtete und ehrenamtliche Helfer nehmen zu – mehr und mehr aus der Mitte einer nach rechts driftenden und sozial gespaltenen Gesellschaft heraus: 2015 kam es zu fast 1.500 einschlägigen Gewalttaten, darunter zu über 1.000 Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte sowie Übergriffe auf Flüchtlinge – das sind fünfmal mehr als 2014. Dieses Jahr sind bereits über 850 rassistische Angriffe auf Asylheime zu beklagen.
Schon seit Jahren ertrinken Flüchtlinge im Mittelmeer. Das Interesse daran hält sich jedoch in Grenzen, obwohl das Mittelmeer mittlerweile durchaus als Massengrab bezeichnet werden könnte. Warum ist das öffentliche Interesse daran so gering?
Das ist wirklich unfassbar angesichts der Dimensionen: Seit 2014 sind über 10.000 Flüchtende umgekommen, allein 2016 fast 5.000 bei der Überquerung des Mittelmeers ertrunken – so viele wie nie zuvor. Jedenfalls dürfte die offizielle Politik mit ihrer Abschottungs- und Abschreckungspolitik gehörigen Anteil an dieser Abstumpfung des öffentlichen Interesses haben.
Doch der Politik des Sterbenlassens wollten Menschen dieses Landes nicht länger tatenlos zusehen. In ihrem »Aufruf zum Handeln«, der letztlich zur Gründung von SOS Méditeranée führte, heißt es: »Die Zivilgesellschaft ist jetzt gefordert, alle Kräfte für den Aufbau eines zivilen europäischen Seenotrettungssystems zu mobilisieren, um das Massensterben von Flüchtlingen zu beenden und der Menschenwürde, den Menschenrechten und den verratenen Werten Europas wieder Geltung zu verschaffen.«
Aber ist es nicht ein politisches Armutszeugnis, dass zivile Hilfsvereine wie SOS Méditerranée Menschen vor dem Ertrinken retten müssen? Ist das nicht Aufgabe der EU-Staaten?
Ja, zumal sie an dieser katastrophalen Situation entscheidenden Anteil haben. Selbstverständlich ist der Einsatz für Schiffbrüchige eine Verpflichtung der EU-Mitgliedstaaten – und wir dürfen sie aus ihrer Verantwortung nicht entlassen. Deshalb fordert die Liga zusammen mit SOS Méditeranée von der EU, ein funktionierendes europäisches Seenotrettungsprogramm im Mittelmeer zu etablieren, das nicht den Schutz der Grenzen, sondern die Rettung des Lebens Schiffbrüchiger zum erklärten Ziel hat.
Regelmäßig schwadronieren nahezu alle Parteien darüber, dass Fluchtursachen bekämpft werden müssten. Aber ist das nicht nur eine Floskel?
In Wirklichkeit zeigen sich Bundesregierung, EU-Staaten sowie die EU insgesamt absolut ignorant gegenüber den wirklichen Flucht- und auch Terrorursachen. Schließlich spielen USA, EU und NATO eine desaströse Rolle gerade im Nahen und Mittleren Osten. Hunderttausende Zivilisten sind dort allein seit 9/11 getötet worden. In dieser Region wirft die »westliche Wertegemeinschaft« für ihre eigenen geopolitischen, ökonomischen und militärischen Vormachtinteressen systematisch die so hochgepriesenen eigenen Werte über Bord – oft genug getarnt als Terrorbekämpfung oder humanitäre Intervention.
In dieser westlichen Mitverursachung von Krieg, Terror, Ausbeutung, Klimawandel und Elend liegt gerade auch die politische Mitverantwortung dafür, dass Millionen Menschen aus diesen Regionen in die Flucht getrieben werden: »Wir kommen zu euch, weil ihr unsere Länder zerstört.« Diese herbe Einsicht und die koloniale und postkoloniale Vorgeschichte mitsamt den korrupten Nachfolgeregimen gehören zum ganzheitlichen Verständnis der realen Flucht- und Terrorursachen, die es mit allem Nachdruck zu beseitigen gilt.
Dann wäre es auch an der Zeit aufzuhören, sich an Kriegen wie dem in Afghanistan zu beteiligen und dadurch erst Fluchtursachen zu schaffen?
Richtig, ohne Stopp von Kriegseinsätzen wird es in dieser Hinsicht keine Fortschritte geben, aber auch nicht ohne Ausstieg aus den exzessiven Waffenexporten – gerade aus Deutschland, wo sich die Rüstungsexporte, auch in Krisen- und Kriegsgebiete, von 2014 auf 2015 verdoppelt haben und auch 2016 extrem hoch sind.
Was müsste die EU tun, um das Leid der Flüchtlinge zu lindern?
Die Liga fordert ein Ende jener EU-Flüchtlingspolitik, die unter Verstoß gegen die universellen Menschenrechte Fluchtwege nach Europa verplombt. Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Not fliehen, um ihr Leben und ihre Existenz zu retten, werden damit mutwillig auf gefährliche Wege und in die Klauen krimineller Schlepper getrieben. Die Schaffung sicherer Fluchtwege nach Europa ist daher ein humanitäres Gebot der Stunde. Dazu gehört auch ein Ende der milliardenschweren menschenrechtswidrigen »Flüchtlingsdeals« mit autokratischen Regimen, mit denen sich Europa Menschen gewaltsam »vom Hals halten« will und sich damit korrumpier- und erpressbar macht. Damit werden Flucht und Flüchtlinge bekämpft – nicht aber Fluchtursachen, die mit der EU-Aufrüstungshilfe für despotische Staaten noch verschärft werden.
Dr. Rolf Gössner ist Rechtsanwalt, Publizist und Vorstandsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte, Mitherausgeber des jährlich erscheinenden Grundrechte-Reports und Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren von Bundestag und Landtagen.