Gemeinsame Presseerklärung der International Federation for Human Rights (FIDH) und ihrer Mitgliedsorganisation in der Ukraine, des Center for Civil Liberties (CCL)
Gestern Abend gab der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) Karim Khan seine Entscheidung bekannt, eine Untersuchung über Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen einzuleiten, die seit 2014 in der Ukraine begangen wurden. Der nächste Schritt wäre, dass die Staatsanwaltschaft die Zustimmung der IStGH-Richter zur Einleitung einer Untersuchung einholt – ein Schritt, der nicht erforderlich ist, wenn ein Vertragsstaat des IStGH-Statuts die Situation an den Gerichtshof verweist, was Litauen Berichten zufolge angekündigt hat. FIDH und CCL begrüßen dieses wichtige Bekenntnis zur Rechenschaftspflicht für vergangene und gegenwärtige internationale Verbrechen und fordern die Vertragsstaaten des IStGH auf, im Rahmen der bevorstehenden Ermittlungen in der Ukraine uneingeschränkt zu kooperieren und den Gerichtshof zu unterstützen, auch finanziell.
„Da die Opfer auf nationaler Ebene keine Aussicht auf Wiedergutmachung haben, haben wir wiederholt die Einleitung einer IStGH-Untersuchung zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gefordert, die seit 2014 während der Euromaidan-Demonstrationen, im Donbass und auf der Krim sowie erst vor wenigen Tagen im Zusammenhang mit der russischen Invasion und der jüngsten Ausweitung des Konflikts begangen wurden. Wir begrüßen insbesondere die Ankündigung des IStGH-Anklägers, dass diese Untersuchung auch neue internationale Verbrechen einbeziehen wird, die von einer der Parteien des anhaltenden Konflikts in der Ukraine begangen wurden“, sagte Oleksandra Matvyichuk, Vorsitzende des CCL.
Zusammen mit vielen ukrainischen Nichtregierungsorganisationen (NRO) haben FIDH und CCL in den letzten sieben Jahren mehrere Mitteilungen nach Artikel 15 an die Anklagebehörde des IStGH gerichtet und den Gerichtshof um die Einleitung von Ermittlungen gebeten. In den letzten beiden Fällen ging es um Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die an Gefangenen in Haft begangen wurden, sowie um konfliktbedingte Sexualverbrechen, die in illegalen Hafteinrichtungen in der Ostukraine begangen wurden. Die CCL und andere ukrainische Menschenrechtsverteidiger dokumentieren aktiv laufende Verbrechen, auch um die Grundlage für eine Rechenschaftspflicht zu schaffen. Insbesondere gibt es zuverlässige Berichte über Angriffe auf zivile Objekte und den Einsatz von Streumunition durch die russischen Streitkräfte in dicht besiedelten Gebieten von Kiew und Charkiw. Sollten sich diese Berichte bestätigen, könnte es sich um Kriegsverbrechen handeln, die in die Zuständigkeit des Gerichtshofs fallen.
„Die Rechenschaftspflicht kann eine wichtige abschreckende Wirkung auf die Begehung von Verbrechen haben. Auch wenn Russland die Legitimität des IStGH nicht anerkannt hat, sendet die Ankündigung des IStGH-Anklägers, rasch eine Untersuchung internationaler Verbrechen einzuleiten, die von einer der Parteien des andauernden Konflikts in der Ukraine begangen wurden, die klare Botschaft, dass niemand über dem Gesetz steht und stehen sollte – vor allem nicht diejenigen, die die größte Verantwortung für die seit 2014 begangenen internationalen Verbrechen tragen“, sagte Delphine Carlens, Leiterin der Abteilung Internationale Justiz der FIDH.
Die Vorgängerin von Karim Khan, Fatou Bensouda, kam bereits im Dezember 2020 zu dem Schluss, dass es eine vernünftige Grundlage für die Annahme gebe, dass im Zusammenhang mit der Situation in der Ukraine Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen worden seien, und dass ihr Büro bereit sei, bei den IStGH-Richtern die Ermächtigung zur Einleitung einer Untersuchung zu beantragen. Fehlende Ressourcen und der daraus resultierende Prozess der Priorisierung der Arbeitsbelastung der Staatsanwaltschaft sowie das Fehlen eines klaren Rahmens für die Zusammenarbeit zwischen der Ukraine und dem IStGH wurden als Faktoren hervorgehoben, die zu diesem über ein Jahr andauernden Stillstand beigetragen haben. FIDH und CCL schließen sich der Erklärung des IStGH-Anklägers an, dass die „Bedeutung und Dringlichkeit der Mission [des Gerichtshofs] zu ernst ist, um als Geisel für fehlende Mittel gehalten zu werden“.
Die Ukraine hat die Zuständigkeit des IStGH für internationale Verbrechen, die in ihrem Hoheitsgebiet begangen wurden, zwar seit Februar 2014 durch zwei Ad-hoc-Erklärungen anerkannt, das Römische Statut jedoch nicht ratifiziert, obwohl ukrainische und internationale NGOs aktiv auf die nationalen Behörden zugegangen sind und sich für sie eingesetzt haben. Jetzt, da die Einleitung einer IStGH-Untersuchung unmittelbar bevorsteht, halten FIDH und CCL den Zeitpunkt für günstig, dass die ukrainischen Behörden die Zuständigkeit des IStGH vollständig anerkennen und das Römische Statut ratifizieren.
Übersetzung der Liga.
Die Internationale Liga für Menschenrechte ist Gründungsmitglied der FIDH und gehört zusammen mit dem CCL zu den derzeit 192 Mitgliedsorganisationen.