Internationale Liga für Menschenrechte

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Internationale Liga für Menschenrechte befürchtet autokratisches Herrschafts­system in der Türkei mit katastrophalen Folgen für die Menschenrechte

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Verfassungsreferendum für Präsidialsystem während Ausnahmezustand in der Türkei

Liga sieht Europarat, EU und Bundesregierung in der Pflicht und fordert u.a. Einstellung aller Waffenlieferungen, Beendigung jeder militärischen und geheimdienstlichen Zusammenarbeit und Aufkündigung des Flüchtlingsdeals. Die Liga unterstützt zudem die Forderung von Oppositionsparteien nach Anfechtung des Referendums.

Am 16. April 2017 ist in einem Verfassungsreferendum in der Türkei über ein Präsidialsy­stem abgestimmt worden, das die geltende parlamentarische Republikform ablöst. Eine Mehrheit von 51,4 % hat nach Angaben der Wahlkommission für das Präsidialsystem votiert – gegen alle Kritik von Bürger- und Menschenrechtsgruppen in der Türkei und aus dem Ausland. Die damit beschlossenen Änderungen der Verfassung führen zu einer Staatsform, die nicht mehr den Anforderungen an ein demokratisch verfasstes Staatswesen entspricht. Die Internationale Liga für Menschenrechte verurteilt zum einen die menschenrechtswidrigen Umstände, unter denen die Volksabstimmung stattgefunden hat, zum anderen die nun beschlossene Demontage der Demokratie durch ein autokratisches Herrschaftssystem und durch eine weitgehende Aufhebung der Gewaltenteilung.

Das Verfassungsreferendum fand während eines fast zehn monatigen Ausnahmezustands statt, der nach dem Putsch-Versuch eines Teils des Militärs verhängt worden ist – also unter repressiven Bedingungen, die demokratischen und menschenrechtlichen Prinzipien widersprechen: Die freie Berichterstattung ist eingeschränkt, kritische Medien werden unter Staatsaufsicht gestellt oder geschlossen, Journalisten bedroht, verfolgt und inhaftiert. Auch Richter und Staatsanwälte, Lehrer, Wissenschaftler und Oppositionelle sind von willkürlichen Entlassungen und Massenverhaftungen betroffen und werden massiv eingeschüchtert. Anwalts- und Verteidigungsrechte wurden seit Juli 2016 eingeschränkt, im November 2016 gleich drei Anwaltskammern verboten. Zunächst „pseudolegalisiert“ durch Notstandsdekrete und künftig legalisiert durch die Verfassungsänderung wird die Instrumentalisierung der Justiz für rein machtpolitische Interessen der türkischen Regierung ermöglicht. Inhaftierte sind unmenschlichen Haftbedingungen unterworfen, nicht selten auch Isolationshaft und Folter. Deshalb beklagten Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen und die oppositionelle HDP wie auch die Verfassungsexperten des Europarates der „Venedig-Kommis­sion“ schon vor Wochen „tief gehende Einschränkungen“ politischer Freiheiten und forderten, das Referendum erst nach Ende des Ausnahmezustands durchzuführen und die drastischen Einschränkungen der politischen Freiheiten endlich aufzuheben. Denn unter solchen Bedingungen kann keineswegs von einer freien Abstimmung gesprochen werden.

Durch die jetzt beschlossene Verfassungsänderung werden fast alle demokratischen Kontrollmöglichkeiten eingeschränkt oder abgeschafft, die es Parlament und Justiz bislang erlauben, Entscheidungen des Präsidenten zu überprüfen oder zu stoppen. Dies entspricht nicht dem Modell eines demokratischen Regierungssystems, das auf rechtsstaatlicher Gewaltenteilung basiert – vielmehr birgt diese Verfassungsänderung die große Gefahr, „in Richtung eines autoritären und eines Ein-Mann-Regimes abzugleiten“ (so die Venedig-Kommission) und den Ausnahmezustand zum Normalfall zu machen.

Der künftige Präsident wird nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef und kann nach eigenem Ermessen den Notstand bzw. Ausnahmezustand über das Land verhängen und das Parlament auflösen (mit anschließenden Neuwahlen). Er darf künftig einer Partei angehören und auch deren Vorsitzender sein, ist für die Ernennung und Absetzung seines Vizepräsidenten und der Minister zuständig und er kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen. Damit hat er neben dem stärkeren Einfluss auf die Auswahl der Richter vor allem die Kontrolle über das Parlament, also die gesetzgebende Gewalt, deren Aufgabe es gerade sein sollte, die Regierung zu kontrollieren. Der Präsident bekommt über die Ernennung der Mitglieder des „Rats der Richter und Staatsanwälte“ deutlich mehr exekutiven Einfluss auf die Judikative, denn dieses Gremium ist unter anderem für die Ernennung, Beförderung und Entlassung von Richtern und Staatsanwälten zuständig. Es fehlen nach Auffassung der Verfassungsexperten der Venedig-Kommission also wichtige demokratische Kontrollmechanismen, „die ein autoritäres System verhindern“ können.

Die Internationale Liga für Menschenrechte fordert den Europarat auf, die weitere staatliche Entwicklung der Türkei kritisch zu beobachten und jährlich einen Bericht über die Einhaltung der Prinzipien und Bestimmungen zum Schutz der Menschenrechte gemäß Europäischer Menschenrechtskonvention sowie der Demokratie und des Rechtsstaats in der Türkei zu erstellen und zu veröffentlichen.

Angesichts der dramatischen Menschenrechtslage, der personellen Säuberungen im Justizapparat und mangels effektiven Rechtsschutzes in der Türkei unterstützt die Internationale Liga für Menschenrechte die Rechtsauffassung und Bemühungen, türkischen Staatsbürgern, die von Menschenrechtsverletzungen betroffenen sind, den direkten Weg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu eröffnen – ohne zuvor alle Instanzen der türkischen Justiz absolvieren zu müssen.

Die Internationale Liga für Menschenrechte fordert die Europäische Union auf, alle für die Vorbereitung zum Beitritt der Türkei zur Europäischen Union laufenden und geplanten Finanzhilfen von der Wiederherstellung aller demokratischen Rechte abhängig zu machen, da sie in der jetzigen Situation überwiegend zur Umsetzung und Stabilisierung einer autokratischen Herrschaft beitragen würden.

Die Internationale Liga für Menschenrechte fordert darüber hinaus die sofortige Einstellung aller Rüstungs- und Waffenlieferungen an die Türkei, die Aufkündigung des menschenverachtenden Flüchtlingsdeals mit der Türkei, an dessen Stelle unter Mithilfe des UNHCR wirksam kontrollierte Direkthilfe für Geflüchtete in der Türkei treten sollte.

Die Internationale Liga für Menschenrechte fordert ein Ende der Ausforschung, Bedrohung und Kriminalisierung kurdischer und türkischer Oppositioneller in der Bundesrepublik und jeder Form geheimdienstlicher sowie militärischer Zusammenarbeit – und last not least eine Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen mit der PKK-Führung.

Rückfragen an:

Dr. Rolf Gössner: Rolf.Goessner@ILMR.de

Herbert Nebel: Herbert.Nebel@ILMR.de

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