Internationale Liga für Menschenrechte

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Neue Runde im Verwaltungsgerichtsprozess gegen Bundesamt für Verfassungsschut

Skandalöse geheimdienstliche Dauerüberwachung von Rolf Gössner verstößt gegen Grundrechte und Verhältnismäßigkeitsprinzip

Int. Liga für Menschenrechte hält Verurteilung des Verfassungsschutzes für unausweichlich

Im Verwaltungsgerichtsverfahren Dr. Rolf Gössner ./. Bundesrepublik Deutschland ist (zweiter + letzter) Termin zur mündlichen Verhandlung auf Donnerstag, 20. Jan. 2011, 13:00 h im Verwaltungsgericht Köln anberaumt (Appellhofplatz, Eingang Burgmauer, Saal 160, 1. Stock).

Diese Woche geht das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Köln in die nächste Runde: In der 2. mündlichen Verhandlung wird es um die entscheidende Frage gehen, ob die vier Jahrzehnte lange geheimdienstliche Beobachtung des Klägers und Liga-Vizeprä­sidenten Rolf Gössner durch das beklagte Bundesamt für Verfassungsschutz ganz oder teilweise rechtmäßig oder rechtswidrig war. Das Gerichtsurteil wird in den nächsten Wochen erwartet.

Rolf Gössner stand seit 1970 ununterbrochen unter Beobachtung des Bundesamtes für Verfassungs­schutz (BfV) – schon als Jurastudent, später als Gerichtsreferendar und seitdem ein Arbeitsleben lang in allen seinen beruflichen und ehrenamtlichen Funktionen als Publizist, Rechtsanwalt und parlamentarischer Berater, später auch als Präsident/Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte und als Mitherausgeber des alljährlich erscheinenden Grundrechte-Reports, seit 2007 als gewähltes (parteiloses) Mitglied der Innendeputation der Bremer Bürgerschaft und selbst noch als stellvertretender Richter am Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen. Erst Ende 2008, kurz vor der 1. mündlichen Verhandlung, wurde die Beobachtung überraschend und mit erstaunlicher Begründung eingestellt. Es dürfte die längste Dauerbeobachtung einer unabhängigen Einzelperson durch den Geheimdienst sein, die bislang dokumentiert werden konnte – ohne dass diese jemals selbst als „Extremist“ oder „Verfassungsfeind“ eingestuft wurde.

Zur Last gelegt werden dem Kläger berufliche und ehrenamtliche Kontakte zu angeblich „linksex­tremistischen“ und „linksextremistisch beeinflussten“ Gruppen und Veranstaltern – wie etwa DKP, Rote Hilfe oder die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), aber auch zu Presseorganen wie Demokratie und Recht, Blätter für deutsche und internationale Politik, Geheim oder Neues Deutschland, in denen er – neben vielen anderen Medien – veröffentlichte, denen er Interviews gab oder in denen über seine Aktivitäten berichtet wurde. Mit seinen Kontakten, publizistischen Beiträgen, Vorträgen und Diskussionen habe er diese Gruppen und Organe „nachhaltig unterstützt“, so der Vorwurf des BfV an den parteilosen Bürgerrechtler.

„Hier wurde aus vollkommen legalen und legitimen Berufskontakten eine verfassungswidrige ‚Kontaktschuld’ Gössners konstruiert“, so die Internationale Liga für Menschenrechte, „die schließlich als waghalsige Begründung für seine jahrzehntelange geheimdienstliche Beobachtung herhalten muss. Dies ist ein ungeheuerlicher Vorgang.“

Sein Freiburger Rechtsanwalt Dr. Udo Kauß ergänzt: „Wahllos hat der Verfassungsschutz vier Jahrzehnte lang jede Nachricht, in der der Name Gössner vorkam, gespeichert. So entstand ein Personendossier von über 2.000 Seiten, das nach Aussagen des BfV ein ‚Gesamtbild’ des Klägers ergeben und dessen „Gesamtverhalten“ widerspiegeln sollte. Das ist ein jahrzehntelanger Verstoß gegen den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit“.

Die Personenakte wird dem Kläger im Übrigen aus „Geheimhaltungsgründen“ zu einem erheblichen Teil vorenthalten. Das BfV begnügt sich nicht allein mit den Kontakten Gössners, sondern macht sich inzwischen auch an die Interpretation seiner öffentlichen Äußerungen, maßt sich damit eine Deutungshoheit über seine Texte an und übt sie in geradezu inquisitorischer Weise aus. Diese ideologisch gesättigten Textinterpretationen „führen uns in die tiefsten 1960er und 70er Jahre des Kalten Krieges“ (so Anwalt Udo Kauß): Da wird schon zum „Verfassungsfeind“, wer das KPD-Verbotsurteil kritisiert oder den Begriff „Berufsverbote“ verwendet, die es in der Bundesrepublik angeblich nie gegeben habe. Da diffamiert die Bundesrepublik und ihre Staatsorgane, wer – wie der Geheimdienstkritiker Gössner – den Verfassungsschutz in Frage stellt und wird mit Verfassungsschutzbeobachtung nicht unter vier Jahrzehnten bestraft.

Die Liga ist überzeugt, dass unter solchen Überwachungsbedingungen ein Anwalt und Publizist seine beruflichen und verfassungsrechtlich geschützten Vertrauensverhältnisse – also Mandatsgeheimnis und Informantenschutz – praktisch nicht mehr gewährleisten kann; damit werden auch Berufs-, Presse-, Meinungs- und Informationsfreiheit stark beeinträchtigt, ebenso wie Gössners ehrenamtliche Menschenrechtsarbeit für die Liga. RA Kauß: „Eine solch skandalöse Dauerbeobachtung durch den Inlandsgeheimdienst, angeblich nur zur Abklärung eines Verdachts, ist mit einem freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat schlichtweg unvereinbar“.

Zum Hintergrund der Überwachungsgeschichte und zum Ablauf des Verwaltungsgerichtsverfahrens sei auf die im pdf-Anhang befindliche Darstellung aus Sicht des Klägers verwiesen.    Informationen zum Verfahrensverlauf siehe Seite 2

 

Hintergrund-Informationen zum Verfahrensverlauf:

Nachdem Rolf Gössner bereits im Frühjahr 2006 gegen die Bundesrepublik Deutschland Klage vor dem Verwaltungsgericht Köln wegen dieser ununterbrochenen und rekordverdächtigen Geheimdienst-Beobachtung eingereicht hatte, kam es Ende 2008 zur ersten mündlichen Verhandlung. Wenige Tage davor teilte das BfV dem Gericht überraschend mit, dass die Beobachtung nach 39 Jahren eingestellt worden sei und alle erfassten Daten löschungsreif seien.

Die Liga hält die Einstellung der Beobachtung Ende 2008 für einen ersten großen Erfolg in diesem Verfahren, der ohne Klage wohl nie zustande gekommen wäre. Der Kläger, der ansonsten wohl immer noch und bis ins hohe Rentenalter unter Bewachung stünde, wird in diesem Verfahren von ver.di – Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union und vom Verband Deutscher Schriftsteller unterstützt. Zuvor hatten zahlreiche Bürgerrechtsorganisationen, Gewerkschaften, Juristenvereinigungen und Schriftsteller – unter ihnen Günter Grass, Dieter Hildebrandt, Horst-Eber­hard Richter – gegen seine Über­wachung protestiert. 2008 ist Rolf Gössner als einer der Mit herausgeber des jährlich erscheinenden „Grundrechte-Report – Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland“ die Theodor-Heuss-Medaille der Theodor-Heuss-Stiftung verliehen worden – für „vorbildliches demokratisches Verhalten, bemerkenswerte Zivilcourage und beispielhaften Einsatz für das Allgemeinwohl“.

Rolf Gössners Klage ist auf vollständige Auskunft des BfV über alle zu seiner Person gespeicherten Daten gerichtet. Außerdem soll die Rechtmäßigkeit der Gesinnungsschnüffelei und Datenerfassung gerichtlich überprüft werden. Inzwischen verpflichtete das Gericht das BfV dazu, seine gesamte Personenakte vorzulegen. Dies ist auch geschehen – allerdings zum größten Teil mit entnommenen Seiten und geschwärzten Textstellen: Von allen über 2.000 vorgelegten Aktenseiten sind etwa 85 Prozent ganz oder teilweise unleserlich oder manipuliert oder gar nicht vorgelegt worden; nur rund 15 Prozent sind offen und vollständig lesbar.

Die Verheimlichung ganzer Aktenteile geht auf umfangreiche Sperrerklärungen des Bundesinnenministeriums (BMI) als oberster Aufsichtsbehörde des BfV zurück. Begründung: Würde ihr Inhalt bekannt, könnte dies dem „Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten“; die Funktionsfähigkeit des Verfassungsschutzes (VS) würde beeinträchtigt, wenn verdeckte Arbeitsweise und operative Interessen bekannt werden („Ausfor­schungs­gefahr“). Die Geheimhaltung diene aber in erster Linie dem Schutz der Informationsquellen, deren Identität nicht enttarnt werden dürfe („Quellenschutz“), weil ansonsten eine „Gefährdung von Leben, Gesundheit oder Freiheit“ von V-Leuten, Hinweisgebern und VS-Bediensteten zu befürchten sei.

Gegen diese Aktenverweigerung klagte Rolf Gössner parallel vor dem hierfür zuständigen Bundesverwaltungsgericht, um Sperrerklärungen und Geheimhaltung in einem so genannten In-camera-Verfahren überprüfen zu lassen. Dabei handelt es sich um ein rechtsstaatlich hoch problematisches Geheimverfahren ohne Mitwirkungsmöglichkeit des Klägers. Nach ihrer Auswertung der gesperrten Aktenteile in geheimer Sitzung kamen die höchsten Verwaltungsrichter zu dem von BMI und BfV geforderten Ergebnis, dass die entsprechenden Aktenteile weiterhin aus Gründen des Quellenschutzes, der Ausforschungsgefahr und des Staatswohls geheim ge­halten werden müssten.

Rechtsanwalt Dr. Udo Kauß verweist auf die fatale Konsequenz, „dass das Verwaltungsgericht Köln jetzt nur auf solch eingeschränkter Informationsbasis seine Entscheidung über Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit dieser Dauerbeobachtung zu treffen hat. Es dürfe jedoch nicht zu Lasten des rechtsuchenden Bürgers gehen, wenn die Überprüfung der vom BfV behaupteten Rechtmäßigkeit der Datenerfassung durch Ab­gabe einer Sperrerklärung vereitelt werde. „Denn in diesem Fall hat der Verfassungsschutz den ihm obliegenden Nachweis nicht erbracht und die Erfassung ist damit rechtswidrig.“

Trotz dieser höchstrichterlich gebilligten Beweismittelverweigerung im staatlichen Ge­heimhal­tungs­interesse ist die verbleibende Dokumentensammlung (Personenakte) dennoch recht aufschlussreich: So erstaunt etwa, wie viele Behörden, andere Stellen und Personen sich in diesem Fall als denunziatorische Zuträger für den Verfassungsschutz betätigt haben und wie viele Spitzelberichte über Gössners Vorträge und sonstige Aktivitäten angefertigt worden sein müssen.

Dieses Verfahren hat nach Auffassung der Liga über den Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung, denn es geht um ein brisantes Problem, das auch andere Publizisten, Rechtsanwälte und Menschenrechtler betrifft: Welche Grenzen sind den kaum kontrollierbaren Nachrichtendiensten und ihren geheimen Aktivitäten gezogen – gerade im Umgang mit Berufsgeheimnisträgern und im Rahmen unabhängiger Men­schen­rechtsarbeit von Nichtregierungsorganisationen?

Dazu RA Kauß: „Die geheimdienstliche Langzeitüberwachung eines Anwalts, Publizisten und Menschen­rechtlers verletzt Persönlichkeitsrechte, Informantenschutz, Mandatsgeheimnis und die ausforschungsfreie Sphäre, die für regierungsunabhängige Menschenrechtsgruppen unabdingbar ist“. Dazu zählten eben auch berufliche Kontakte zu „inkriminierten“ Gruppen und Personen, die der Verfassungsschutz für beobachtenswert hält.

„Kritischer Dialog und offene politische Auseinandersetzung dürfen nicht unter geheimdienstliche Beobachtung und Kuratel gestellt werden“, ergänzt Liga-Vizepräsident Rolf Gössner: „Das würde keine freiheitliche Demokratie auf Dauer aushalten.“

Literaturhinweis: www.stern.de/politik/deutschland/verfassungsschutz-schlapphuete-sehen-rot-612872.html

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