Internationale Liga für Menschenrechte

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PM: Urteilsbegründung im Beobachtungsfall des Bürgerrechtlers Rolf Gössner liegt vor.

 Urteilsbegründung im Beobachtungsfall des Bürgerrechtlers Rolf Gössner liegt vor

Verwaltungsgericht liest Verfassungsschutz die Leviten.
Rehabilitierung nach
fast 40 Jahren Grundrechtsbruch

spiegel-online und „DER SPIEGEL“ berichten
über die Geschichte dieser Dauerbeobachtung und ihre gerichtliche Aufarbeitung

Inzwischen hat das Verwaltungsgericht Köln seine schriftliche Urteilsbegründung in dem Gerichtsverfahren Dr. Rolf Gössner (Kläger) gegen Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (Beklagte), vorgelegt. Das Gericht hatte bereits am 03.02.2011 festgestellt, dass die geheimdienstliche Dauerbeobachtung des Rechtsanwalts, Publizisten und Vizepräsidenten der Internationalen Liga für Menschenrechte, Rolf Gössner, über die gesamte Zeitdauer von 1970 bis November 2008 rechtswidrig war und dem Betroffenen ein Anspruch auf Rehabilitierung zusteht.

Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ berichtet diese Woche in der Printausgabe (Panorama; www.spiegel.de/spiegel/vorab/0,1518,754650,00.html) sowie in seinem Internet-Magazin spiegel-online über die absurde Überwachungsgeschichte einer jahrzehntelangen Beobachtung durch den Inlandsgeheimdienst „Verfassungsschutz“ und wertet das Urteil des Verwaltungsgerichts publizistisch aus.

Mit der Urteilsbegründung (68 Seiten) hat das Verwaltungsgericht Köln dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) gehörig die Leviten gelesen: Der Inlandsgeheimdienst hatte die beruflichen Arbeiten und Bürgerrechtsaktivitäten von Rolf Gössner aus den jeweiligen Zusam­menhängen gerissen und als Angriff auf die verfassungsmäßige Ordnung uminterpretiert. Er hat seine ohnehin schon weit gefassten Kompetenzen erheblich überschritten und mit der zielgerichteten, vier Jahrzehnte langen Dauerüberwachung gegen den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Berufsausübungsfreiheit des Klägers sind dabei systematisch und anhaltend missachtet worden.

Wörtlich heißt es im Urteil (S. 65): „Auf Seiten des Klägers ist zu berücksichtigen, dass die – weithin bekannte – Sammlung von Daten zu seiner Person im Hinblick auf seine journalistische Arbeit, aber auch seine rechtsberatende Tätigkeit im parlamentarischen Raum als schwerwiegender Eingriff in verfassungsrechtlich geschützte Positionen zu bewerten ist. Denn gerade ein Journalist wird sich möglicherweise bei der Abfassung von Artikeln veranlasst sehen, etwa bestimmte ‚Signalwörter’ zu vermeiden oder Kritik nicht so drastisch zu formulieren wie eigentlich beabsich­tigt (der Kläger sprach diesbezüglich in der mündlichen Verhandlung von der ‚Schere im Kopf’). Dabei kommt für den Kläger erschwerend hinzu, dass vor allem bei Recherchen in seinem Haupttätigkeitsfeld ‚In­nere Sicherheit’ eine besondere Vertrauensbasis zu Auskunftspersonen nötig ist, die durch eine Beobachtung seitens des Verfassungsschutzes erheblich tangiert wird.“ Dies gilt prinzipiell auch für seine Anwalts- und Menschenrechtsarbeit.

Das Gericht stellte fest, dass auch scharfe, provokante, polemische oder ironische Kritik an staatlichen Sicherheitsorganen wie Polizei oder Geheimdiensten kein Grund für eine geheimdienstliche Überwachung sein darf, genauso wenig wie Gössners substantiierte Kritik (das BfV spricht von: „Agitation“) etwa am KPD-Verbot, an Berufsverboten, an der Polizeientwicklung oder am „Verfassungsschutz“ selbst. Auch die bloße Kritik an wesentlichen Elementen der Verfassung oder tragenden Bestandteilen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, so die Richter, reiche als Anlass nicht aus, um eine verfassungsfeindliche Bestrebung zu bejahen und einen Staatskritiker unter geheimdienstliche Beobachtung zu stellen.

Das Gericht hat die vom BfV gesammelten und inkriminierten Textpassagen aus Artikeln, Interviews und Reden Gössners wieder in ihre inhaltlichen und zeitgeschichtlichen Zusammenhänge gestellt und ausführlich Punkt für Punkt daraufhin überprüft, ob die Voraussetzungen für eine Erfassung und Speicherung durch den Verfassungsschutz gegeben waren. Desgleichen überprüfte das Ge­richt Gössners frühere (zeitweilige) Mitgliedschaften in inkriminierten „Personenzusammenschlüssen“ wie dem „Sozialdemokratischen Hochschulbund“ (SHB) oder in der Redaktion der geheimdienstkritischen Zeitschrift „Geheim“ (Köln) sowie seine sporadischen Auftritte, Artikel oder Interviews etwa im Rahmen der DKP, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) oder der Rechtshilfegruppe „Rote Hilfe“. Solche beruflichen Einzelkontakte könnten nicht automatisch zu Unterstützungshandlungen zugunsten „linksextremistischer“ Parteien oder Organisationen erklärt werden. Der Verfassungsschutz habe insofern unverhältnismäßig und rechtswidrig gehandelt.

Das Gericht hat ohne Ausnahme in allen Punkten festgestellt, dass „keine tatsächlichen Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung“ vorliegen. Wörtlich: „Was allgemein seine (Gössners) Haltung zu verfassungsrechtlichen Grundlagen betrifft, fordert der Kläger in vielen Beiträgen gerade die strikte Einhaltung verfassungsrechtlicher Vorgaben ein…“ Deshalb hatte das BfV kein Recht, Daten über den Kläger in einer (über 2.000 Seiten umfassenden) Personenakte zu erfassen, zu speichern und zu verarbeiten.

F a z i t

„Deutlicher hätte die Verurteilung der haltlosen Schnüffeleien und gesammelten Akten des Verfassungsschutzes kaum ausfallen können“, erklärt Liga-Präsidentin Fanny-Michaela Reisin heute in Berlin. Das Verwaltungsgericht habe die jahrzehntelange Bürgerrechtsarbeit Gössners mit den Mitteln des Rechtsstaats verteidigt und gegen die dunklen Machenschaften des Verfas­sungsschutzes in Schutz genommen. „Diese Rehabilitierung war überfällig, weil der Verfassungs­schutz versucht hatte, einen konsequenten Kritiker eben dieser rechtsstaatswidrigen und verleumderischen Praxis der Geheimdienste in der Bundesrepublik zu disqualifizieren und als Verfassungsfeind abzustempeln. Ein solcher Verfassungsschutz steht offenkundig nicht im Dienst der Verfassung, sondern ist vielmehr selbst eine große Gefahr für einen freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat.

Gössners Anwalt Dr. Udo Kauß (Freiburg) ergänzt: „Die Urteilsbegründung des Gerichts ist ein Propädeutikum in Sachen Recht und vor allem Unrecht des Verfassungsschutzes. Der übliche verfassungsschützerische Sesam-öffne-Dich, der wegen Verdachts auf ‚Linksextremismus’ oder auf ‚linksextre­mistische Beeinflussung’ bei Kontakten zu bestimmten verfemten Gruppen und Organisationen wie DKP, VVN/BdA oder Rote Hilfe reflexartig die verfassungsschützerische Kontaminie­rung der Beteiligten auslöst, sollte – ein Stück mehr – der Vergangenheit angehören. Eine schallende Ohrfeige mit hoffentlich nachhaltiger Wirkung für die Erfassungspraxis nicht nur des Bundesamtes für Verfassungsschutz, sondern aller bundesdeutschen Geheimdienste. Das Amt wird seine Be­obachtungs- und Erfassungspraxis gründlich ändern müssen.“

Rolf Gössner fordert deshalb weit reichende Konsequenzen aus diesem Riesenskandal: „Ein solcher Dauerrechtsbruch dürfte hierzulande nur selten einer staatlichen Institution gerichtlich bescheinigt worden sein. Daraus sind dringend politische und gesetzliche Konsequenzen zu ziehen – zumal wenn man bedenkt, dass es sich um keinen Einzelfall handeln dürfte. Die Konsequenzen müssen an die Substanz dieser undurchsichtigen und unkontrollierbaren Institution gehen. Hier hat ein Geheimdienst nicht nur seine ohnehin zweifelhaften Befugnisse, Mittel und Methoden miss­braucht, vielmehr haben auch alle Kontrollinstanzen vollständig versagt. Solchen intransparen­ten, kontrollresistenten und damit demokratiewidrigen Institutionen sollte so rasch wie möglich die Lizenz zum Schnüffeln und zur Gesinnungskontrolle entzogen werden und damit auch die Lizenz zum Schutz der Verfassung. Im Übrigen ist diese langjährige, aufwändige Überwachungsgeschichte – wegen Verschwendung öffentlicher Gelder – auch ein dringlicher Fall für den Bundesrechnungshof.“